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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Augen und sog tief die salzige Meeresluft ein. Alles kam wieder zurück. Sie öffnete die Augen, blickte zu Lucy hinauf und erschauderte unter der Woge der Erinnerungen.
    Und dann sagte hinter ihr eine Stimme – nein, nicht eine Stimme, die Stimme: »Cassie?«
    Sie konnte sich nicht bewegen.
    »O mein Gott«, sagte er so schmerzerfüllt, dass es ihr fast das Herz zerriss.
    Dave Pierce kam sich vor, als hätte eine riesige Hand sein Leben gepackt und es wie eine billige, kleine Schneekugel hin- und hergeschüttelt.
    Er saß vor dem Computer im Gästezimmer, das Megan im letzten Jahr zu einem Arbeitszimmer umgewandelt hatte, und hatte Bauchschmerzen. Er hasste dieses Chaos einfach. Er reagierte nicht gut auf Druck. Doch wann immer es ihm sonst so vorgekommen war, als ob die Wände immer näher an ihn heranrückten, war Megan zur Stelle gewesen. Hatte ihm die Schläfen gerieben, die Schultern massiert oder leise besänftigende Worte ins Ohr geflüstert.
    Ohne sie war er hilflos und verängstigt. So etwas hatte Megan noch nie gemacht. Sie war nie länger als ein oder zwei Stunden nicht erreichbar gewesen. Eigentlich hätte er von ihrem plötzlich so sprunghaften Verhalten überrascht oder sogar erschreckt sein müssen – am schlimmsten war jedoch, dass das nicht der Fall war. Und genau das verunsicherte ihn am meisten – wie leicht dieses Leben, alles, was er für selbstverständlich gehalten hatte, ins Wanken geraten konnte.
    Sein Zeigefinger verharrte über der Maustaste. Dave sah auf den Monitor. Er wollte diesen letzten Klick nicht machen, aber hatte er überhaupt noch eine Wahl?
    Er erschrak, als Jordan die Tür aufstieß und ins Zimmer kam. »Dad?«
    »Herrgott, was hab ich dir über das Anklopfen gesagt?«
    »Tut mir leid …«
    »Ich hab dir das doch schon hundert Mal gesagt«, sagte er lauter, als er eigentlich wollte. »Du sollst klopfen, bevor du ein Zimmer betrittst, ist das denn so schwer zu kapieren?«
    »Ich wollte nicht …«
    Jordan schossen Tränen in die Augen. Er war ein empfindsamer Junge. Als kleiner Junge war Dave ganz ähnlich gewesen. Er ruderte zurück.
    »Tut mir leid, Sportsfreund. Ich hab gerade nur viel um die Ohren, das ist alles.«
    Jordan nickte und versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
    »Was gibt’s, Kumpel?«
    »Wo ist Mom?«
    Gute Frage. Er starrte auf den Bildschirm. Ein Klick noch, dann wusste er die Antwort. Zu seinem Sohn sagte er: »Sie muss etwas für Oma erledigen. Musst du nicht längst im Bett sein?«
    »Mom hat gesagt, dass sie mir bei Mathe hilft.«
    »Warum hast du mich nicht gefragt?«
    Jordan runzelte die Stirn. »Bei Mathe?«
    Daves schlechte Mathematikkenntnisse waren immer wieder Anlass für Witzeleien in der Familie. »Der Punkt geht an dich. Aber geh jetzt ins Bett. Es ist spät.«
    »Ich habe meine Hausaufgaben noch nicht fertig.«
    »Dann schreib ich dir eine Entschuldigung. Leg dich schlafen, okay?«
    Er kam näher an seinen Vater heran. Der Junge freute sich immer noch über einen Gutenachtkuss. Seine Schwester verweigerte sich diesem Ritual schon seit Jahren. Als sein Sohn ihn jetzt umarmte, traten Dave Tränen in die Augen. Er drückte seinen Sohn einen Moment länger als üblich. Als sie die Umarmung lösten, schweifte Jordans Blick wie immer auf den Computer-Monitor. Dave minimierte das Bild schnell zu einem kleinen Ikon in der unteren Ecke.
    »Gute Nacht, Kumpel.«
    »Gute Nacht, Dad.«
    »Mach die Tür zu, ja?«
    Jordan nickte und tat, worum man ihn gebeten hatte. Dave wischte sich die Tränen aus den Augen und klickte auf das Ikon. Das Bild erschien. Wieder schob er den Mauszeiger über den Link. Noch ein Klick, dann würde er genau wissen, wo seine Frau war.
    Als er die Handys gekauft und dabei einen Vertrag unterschrieben hatte, bei dem ein Hypothekenmakler Minderwertigkeitskomplexe bekommen hätte, machte der Verkäufer ein paar todlangweilige Ergänzungsangebote für Smartphones, von denen Dave die meisten ignorierte. Als der Verkäufer aber vorschlug, für nur fünf Dollar im Monat die GPS -Funktion der Handys zu aktivieren, hatte Dave zugestimmt. Damals hatte er sich eingeredet, dass er dann ruhiger schlafen könne und es nur für Notfälle sei – falls Jordan einmal vermisst wurde, Kaylie sich stundenlang nicht meldete oder Megan entführt wurde.
    Die Wahrheit aber war – eine Wahrheit, die Dave sich nicht einmal flüsternd selbst eingestanden hätte –, dass er der Frau, die er liebte und der er in jeder Beziehung vertraute, nie wirklich

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