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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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für Tag mit ansehen musste, fand man keinen Geschmack mehr daran.
    Jetzt saß er aber gerade vor einer Flasche von seinem Lieblingsdrink, einem Macallan Single Malt, weil er sich betäuben musste. Del hatte viel Geld gemacht. Er hatte das Gastronomie-Business von der Pike auf gelernt, genau gewusst, wie es läuft, und erkannt, dass es eine ziemlich lausige Art war, seine Brötchen zu verdienen. Also war er in den Gastronomiebedarf gewechselt – Tischdecken, Teller, Besteck, Gläser und so weiter. Er hatte klein angefangen, war aber schließlich zum größten Anbieter im südlichen New Jersey aufgestiegen. Von dem verdienten Geld hatte er Immobilien gekauft, vor allem private Lagerräume am Stadtrand, und so ein Vermögen gemacht.
    Das alles bedeutete ihm nichts.
    Natürlich war das ein Klischee, aber im Moment dachte Del nur an Carlton. An seinen Jungen. Carltons Verschwinden bedrückte Del, zerfraß ihn, nahm ihm die Luft zum Atmen. Er sah aus dem Fenster. Der Pool war abgedeckt für den Winter, trotzdem sah er seinen Sohn darin beim Schwimmen mit seinen Freunden, hörte ihn zu laut fluchen und mit jedem Mädchen flirten, das auch nur zufällig einen Blick in seine Richtung warf. Es traf zu, dass sein Sohn – sein einziger Sohn – ein Weichling war. Er verbrachte zu viel Zeit im Fitness-Studio, stylte seinen Körper, wachste ihn und zupfte sich die Augenbrauen, als ob die ganze Scheiße für einen Mann wirklich angemessen wäre. Aber wenn sein Sohn ihm zulächelte, wenn sein Sohn ihn umarmte und ihm einen Kuss auf die Wange gab – denn das hatte Carlton immer noch getan, bevor er sich abends auf den Weg in einen Club gemacht hatte –, füllte sich Dels Brust mit etwas so Realem, etwas so Wunderbarem und Lebensbejahendem, dass er wusste, er war auf diesen Planeten gekommen, um genau das zu empfinden.
    Und jetzt, puff, war sein Sohn – das Einzige in diesem Leben, was wirklich wichtig, wirklich unersetzlich war – verschwunden.
    Was hätte Del tun sollen? Untätig dasitzen und abwarten? Der Polizei die Obhut über sein eigenes Kind überlassen? Sich in einer Stadt, in der nie fair gespielt wurde, an die Regeln halten?
    Was wäre er für ein Vater, wenn er so etwas tun würde?
    Man kümmerte sich um die Seinen. Man beschützte seine Kinder, ganz egal, was es kostete.
    Es war Mitternacht. Del spielte mit der Goldkette herum, die er um den Hals trug. Die mit der Medaille des heiligen Antonius, die Maria ihm zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Der heilige Antonius war der Schutzheilige für verlorene Gegenstände und Personen. »Verlier uns nie, okay?«, hatte sie gesagt, als sie ihm die Kette um den Hals legte. Dann hatte sie auch Carlton eine um den Hals gelegt. »Verlier Carlton und mich nie.«
    Prophetisch.
    Aus dem Schlafzimmer hörte er den Fernseher. Darya sah sich etwas auf ihrem 52-Zoll 3D-Flachbild-Fernseher mit Surroundsystem an. Hier saß Del also – von Luxus umgeben in seinem weißen Haus – und war völlig machtlos. Er fühlte sich hilflos, impotent, fett und saß hier bequem und weich, während sein Junge irgendwo da draußen in der Kälte und Dunkelheit war. Er könnte in Gefangenschaft sein oder vor Schmerz weinen. Er könnte bluten und nach seinem Vater rufen, damit der ihn rettete.
    Als Carlton vier war, hatte er Angst gehabt, auf dem Spielplatz die Rutsche für die »großen Jungs« herunterzurutschen. Del hatte ihn deshalb gehänselt, war sogar so weit gegangen, dass er ihn ein Baby genannt hatte. Carlton hatte angefangen zu weinen, was Del nur noch mehr geärgert hatte. Schließlich hatte Carlton angefangen, die Leiter hochzuklettern, nur um seinem alten Herrn eine Freude zu machen (oder ihn zum Schweigen zu bringen). Es war voll auf der Rutsche, und die Kinder drängelten auf dem Weg nach oben. Carlton, der kleinste Junge auf der Leiter, verlor das Gleichgewicht. Del erinnerte sich noch an den Augenblick, als er mit verschränkten Armen etwas abseits stand und sah, wie sein Sohn nach hinten stürzte, und schon in dem Moment, als er in seine Richtung startete, wusste, dass er ihn nicht rechtzeitig erreichen konnte, dass er, der Vater des Jungen, seinen Sohn nicht nur beschämt hatte und daher für seinen Sturz verantwortlich, sondern nun auch noch machtlos war und nichts tun konnte, um ihn zu retten.
    Der kleine Carlton war falsch aufgekommen, und sein Arm war nach hinten geklappt wie der Flügel eines Vogels. Er hatte vor Schmerz geschrien. Del hatte diesen Moment nie vergessen. Er

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