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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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die Autotür öffnete und leise wieder schloss, weil es spät war und sie niemanden wecken wollte, wusste sie daher noch immer nicht, was sie dem Mann, mit dem sie seit sechzehn Jahren verheiratet war, erzählen sollte.
    Das Haus war still – fast zu still, hätte man sagen können –, als ob die glänzenden neuen Ziegel und das Mauerwerk irgendwie den Atem anhielten. Die Stille überraschte sie. Trotz der späten Stunde hatte Megan damit gerechnet, dass Dave wach war und auf ihre Rückkehr wartete. Aber vielleicht saß er auch im Dunkeln oder ging nervös auf und ab. Allerdings war im Haus überhaupt kein Lebenszeichen zu entdecken. Leise ging sie die Treppe hinauf und dann nach rechts. Jordans Zimmertür stand offen. Sie hörte seinen Atem. Wie die meisten Elfjährigen schlief Jordan, wenn er erst einmal zur Ruhe gekommen war, wie ein Stein und war allenfalls durch eine mittelgroße Naturkatastrophe wach zu bekommen.
    Jordan schlief immer mit offener Tür und hatte auch mit elf Jahren noch ein Nachtlicht im Zimmer. Megan sah den Hai, der über seinem Kopf hing. Aus irgendeinem seltsamen Grund hatte Jordan das Angeln zu seiner Lieblingsbeschäftigung erkoren. Weder sie noch Dave hatten je geangelt – oder auch nur im Entferntesten Spaß daran gehabt –, aber Daves Schwager hatte Jordan einmal mitgenommen, als der vier Jahre alt war, und den Jungen damit angesteckt. Eine Weile hatte dieser Schwager Dave auf seine Angelausflüge in die Umgebung mitgenommen, was allerdings ein plötzliches Ende fand, als er sich von Daves Schwester scheiden ließ. Daher organisierte Dave jetzt mindestens zwei Mal im Jahr ein Angelwochenende für »die Männer der Familie« (manche Leute nannten es vielleicht »sexistisch«, dass die Frauen nicht eingeladen waren, Megan und Kaylie wäre eher das Wort »dankbar« in den Sinn gekommen), was alles vom Fliegenfischen in Wyoming über Barschangeln in Alabama und letztes Jahr sogar einen Ausflug zum Haiangeln vor der Nordküste Georgias bedeuten konnte. Von dieser letzten Fahrt hatte Jordan diese Trophäe mitgebracht.
    Kaylies Schlafzimmertür war wie immer geschlossen. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit, nur vor der Störung ihrer Privatsphäre. Kaylie hatte vor kurzem eine richtiggehende Kampagne gestartet – man konnte es nicht anders bezeichnen –, die darauf abzielte, ihr Schlafzimmer in den ausgebauten Keller zu verlegen, sich also so weit wie möglich vom Rest der Familie zu entfernen, und während Megan zu ihrem entschiedenen Nein stand, war Dave kurz davor nachzugeben. Seine übliche Rechtfertigung für seine Nachgiebigkeit klang fast wie eines seiner Plädoyers vor Gericht: »Sie wird uns bald verlassen … Wir müssen ihr in den kleinen Dingen möglichst viel Freiheit geben … Wo wir nur noch so wenig Zeit mit ihr zusammen verbringen werden, wollen wir da wirklich die ganze Zeit streiten?«
    Megan riskierte es, den Knauf an der Zimmertür ihrer Tochter zu drehen und leise die Tür zu öffnen. Kaylie lag in ihrer üblichen Schlafposition auf der Seite und hatte ihren Plüsch-Pinguin, den sie originellerweise »Pinguin« getauft hatte, fest an sich gedrückt. Seit sie acht war, schlief Kaylie mit Pinguin. Megan musste immer lächeln, wenn sie daran dachte. Teenager mochten wie Erwachsene aussehen, sich nach Unabhängigkeit von Mom und Dad sehnen, aber der gute, alte Pinguin erinnerte sie immer wieder daran, dass sie noch viel elterliche Arbeit vor sich hatten.
    Es war schön, wieder zu Hause zu sein.
    Letztendlich hatte Megan nichts Falsches getan. Sie hatte Broome die für ihn erforderlichen Informationen gegeben und war unversehrt an den Ort zurückgekehrt, an den sie gehörte. Als sie durch ihr Zuhause tapste, wurde Atlantic City im Rückblick immer kleiner. Das Einzige, was sie etwas aus der Bahn geworfen hatte, war die Begegnung mit Ray – und mit Lucy im Hintergrund. Der Schmerz hatte sie den ganzen Rückweg begleitet – die Wehmut, die sie immer verspürte, wenn sie an Ray dachte –, aber manche Dinge ließen sich eben verwirklichen, andere nicht. Die Idee, »alles zu haben«, war tatsächlich Unsinn. Trotzdem – dieses Begehren, diese Elektrizität, die einen durchzuckte, als liefe das ganze Leben plötzlich mit vielfacher Energie ab, dieses Gefühl, dass sie Ray nah sein wollte, dann noch näher, und dann war selbst das nicht nah genug … natürlich hatte ihr das zu schaffen gemacht. Natürlich konnte sie versuchen, es zu verleugnen. Das hatte sie

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