Wer hat Alice umgebracht?
hatte überhaupt keine Ahnung, wo wir uns momentan befanden.
Das Wimmern der Polizeisirenen hörte sich mal beängstigend nahe, mal weit entfernt an. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Als wir kurz darauf die Ranfrew Street überquerten, sah ich sogar das Heck eines Einsatzwagens, das vorbeiraste. Aber offenbar schauten die Officers nicht in den Rückspiegel, denn wir kamen unbemerkt davon. Cameron lotste mich durch stille Gassen und Höfe, wir entfernten uns immer weiter vom Stadtzentrum. Einmal sah ich aus weiter Entfernung die Kirchturmspitze von St. Andrews. Aber ansonsten wusste ich nicht, wo wir waren. Glasgow hat immerhin über eine halbe Million Einwohner, und in vielen Gegenden der Stadt war ich noch nie gewesen.
„Ich schätze, wir haben die Cops abgeschüttelt.“
Mit diesen Worten führte Cameron mich in ein finsteres Abbruchhaus in der Nähe des Ufers. Beim Anblick der finsteren Ruine runzelte ich die Stirn.
„Wollen wir nicht versuchen, den Weg zurück zu Onkel Arthur zu finden?“
Cameron seufzte.
„Das ist leider keine gute Idee. Sieh mal, die Cops sind nicht blöd. Sie haben inzwischen den Vauxhall sichergestellt, davon kannst du ausgehen. Das Auto ist auf meinen Freund Ernie zugelassen. Die Polizei wird ihn schon aus dem Bett geklingelt haben. Ernie ist kein Held, er wird für mich nicht lügen. Also werden die Cops von ihm erfahren, dass ich sein Auto ausgeliehen habe. Der nächste Schritt wird die Ermittler also in meine WG führen. Ich lebe dort mit drei Typen zusammen. Sie heißen Micky, David und Ruben. Meine Mitbewohner wissen alle, dass ich oft bei Onkel Arthur abhänge. Sie sind okay, aber so richtig eng befreundet bin ich mit keinem von ihnen. Sie würden wegen mir keinen Ärger mit der Polizei riskieren. Wenn nur einer von ihnen nicht dichthält, stehen die Bullen schon heute Nacht in Onkel Arthurs Atelier auf der Matte. Dorthin können wir also auf keinen Fall. Ich hoffe nur, dass Onkel Arthur inzwischen deine alte Kleidung und die Handschellen beseitigt hat. Sonst kriegt er nämlich den Ärger des Jahrhunderts. Ich werde ihn gleich mal anrufen und warnen.“
Cameron griff zu seinem Handy, gab aber nach mehreren Versuchen entnervt auf.
„Ich bekomme hier kein Netz. Aber wir hoffen einfach mal, dass Onkel Arthur schon alle Spuren beseitigt hat. Er ist ziemlich clever. Sonst hätte er es wohl nicht geschafft, schon so viele Jahre von seiner Bildhauerei zu leben. Er wird nichts aufbewahrt haben, was dich belasten könnte.“
Ernüchtert nickte ich. So vorausschauend hatte ich gar nicht gedacht. Ob Cameron schon öfter Ärger mit der Polizei gehabt hatte? Jedenfalls schien er sich auszukennen. Aber vielleicht las er auch nur oft genug einen Thriller. Da soll noch mal jemand behaupten, das Lesen würde nichts bringen.
Mir wurde klar, dass wir auf jeden Fall den Rest der Nacht in dem Abbruchhaus verbringen mussten.
6. KAPITEL
Das Gebäude war mir unheimlich. Es roch nach verfaultem Holz und Schimmel. Offenbar war dieses Gemäuer früher ein Warenlager gewesen, denn im Lichtschein von Camerons kleiner Taschenlampe sah ich zerbrochene Holzkisten und Stapel von zerrissenen Jutesäcken.
„Das Haus wird nächste Woche abgerissen, das weiß ich von einem Kumpel. Er arbeitet für die Baufirma. Immerhin sind wir für diese Nacht ungestört. Obdachlose werden hier nicht unterkriechen.“
„Und wieso nicht? Hat das Dach Löcher?“
„Nein, das Dach ist in Ordnung. Aber angeblich spukt es in diesem Haus. Der letzte Besitzer des Gebäudes hat sich auf dem Dachboden erhängt, als er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. So etwas spricht sich schnell herum, jedenfalls in Glasgow. Und die meisten Vagabunden sind ziemlich abergläubisch.“
Darauf erwiderte ich nichts. Auch ich fand die Vorstellung, in einem Geisterhaus übernachten zu müssen, nicht besonders prickelnd. Aber ich sagte nichts, weil ich vor Cameron nicht als Weichei dastehen wollte. Es nervte mich sowieso, dass ich eigentlich nur ihm meine gelungene Flucht zu verdanken hatte. Ohne seine halsbrecherischen Fahrkünste und sein Orientierungsvermögen in den alten Stadtteilen hätten die Cops mich schon längst wieder eingefangen. Darüber machte ich mir keine Illusionen. Aber ich wollte kein schwaches Weibchen sein, das sich ständig von einem starken Helden retten lassen musste. Wie sollte Cameron mich respektieren, wenn ich so hilflos wirkte? Deshalb wurde es höchste Zeit, dass ich selbst etwas unternahm.
Doch momentan
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