Wer hat Angst vor Jasper Jones?
wie hart die Befragung wohl ist. Vielleicht ist es gefährlich, dass ich hier bin. Was ist, wenn sie einen Haftbefehl gegen mich ausstellen? Wenn sie bereits nach Jasper Jones suchen? Ich habe eine Leiche versteckt. Jawohl. Vielleicht sollte ich mich stellen, bevor sie mich festnehmen können. Ich werde ihnen alles erzählen und um Gnade bitten.
Ich weiß es nicht.
Doch dann kommt sie. Eliza Wishart darf gehen. Flankiert von ihren Eltern, wird sie aus der Polizeiwache geführt. Ihre Mutter ist vor Kummer ganz rot im Gesicht, ihr Vater sieht blass aus. Eliza wirkt ernst und feierlich. Ich versuche ihren Blick einzufangen, doch sie sieht mich erst an, als sie den Kopf senkt, um ins Auto zu steigen. Ich glaube, sie schenkt mir den Hauch eines Lächelns, aber sicher bin ich mir nicht. So oder so werden meine Sorgen dadurch kaum gelindert.
Sie fahren davon und wirbeln eine dicke Staubwolke hinter sich auf. Ich sehe sie an mir vorüberfahren. Ich bin kurz davor umzukippen. Eine ganze Weile erwäge ich, die Wache zu betreten, doch dann entscheide ich mich, nach Hause zu gehen. Ich will im Fluss schwimmen und nie wieder herauskommen. Ich will ein Glas Lycheesaft trinken und mir eine dämliche Fernsehshow ansehen.
Ich trotte am Schulsportplatz vorbei und bemerke, dass die Kinder, die ich dort vor ein paar Wochen gesehen habe, endlich ihren mickrigen Drachen in Schwung gebracht haben. Also bleibe ich stehen und schaue ihnen zu.
Man kann ihn sich dort oben leicht als kreisenden Vogel vorstellen. Als hätten sie einem schwebenden Habicht eine lange Schnur an den Fuß gebunden und hielten ihn an einer dünnen Leine, damit er spüren kann, wie es ist zu fliegen. Man will ihn höher steigen lassen, die Schnur ganz abwickeln und festhalten, nur um zu sehen, wie weit er hinaufkommt. Doch wenn er erst einmal außer Sichtweite ist, will man ihn wiederhaben, nicht wahr? Weil wir weiter hier unten feststecken und ihm nicht folgen können. Aber es ist schön zu wissen, dass man schwer genug war, um ihn festzuhalten und an den Boden zu fesseln, sodass man ihn eine Weile bewundern konnte. Wie wenn man einen wertvollen Gegenstand herausholt, um ihn sich anzuschauen. Ein Schmuckstück, ein Gedicht oder ein Musikstück. Man möchte sie am liebsten festbinden, nachts in einen Käfig sperren und für immer behalten. So wie Leute, die sich gegenseitig Ringe an die Finger stecken, damit der andere nicht fortläuft. Natürlich funktioniert es nicht. Man kann sich nichts zu eigen machen, indem man es festhält. Irgendwann wird einem klar, dass man es nur deshalb festhält, weil es mit der gleichen Stärke fortstrebt. Man muss sich die Schnur vom Finger schneiden, den dünnen Faden loslassen wie eine klitzekleine Spinne im Wind.
Ich wende den Blick ab, schließe für eine Weile die Augen und konzentriere mich. So wie man es tut, wenn man das Gefühl hat, gleich niesen zu müssen. Meine Kehle schnürt sich zusammen, und meine Mundwinkel verziehen sich nach unten. Ich renne nach Hause, bevor mich irgendjemand weinen sieht.
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8
Ich gehe nicht fort aus Corrigan. Ich stehle mich nicht mitten in der Nacht mit Eliza Wishart oder Jasper Jones davon. Es gibt keinen Sprung auf einen Güterzug, keinen ausgestreckten Daumen an einsamen Landstraßen, kein geschnürtes Bündel und kein raues Lager unter einer Decke aus Sternengalaxien. Ich bleibe, wo ich bin.
Aber meine Mutter geht fort.
Sie ging noch in der gleichen Nacht. Packte ihre Sachen und fuhr davon, dass der Wagen mit quietschenden Reifen die Straße hinabschleuderte, während unsere neugierigen Nachbarn in ihren Gärten Spalier standen. Sie bekamen alles mit. Nur wenige Stunden später wusste die ganze Stadt Bescheid. Im Handumdrehen hatte sie den Lack entfernt, mit dem sie ihren Namen im Laufe vieler Jahre so sorgfältig überzogen hatte. Hässlich, laut und gemein gab sie sich in einer einzigen Szene zu erkennen. Und die anderen hörten alles mit an.
Sie ging noch in der gleichen Nacht, doch nicht ohne vorher Gift und Galle zu spucken. Nicht ohne vorher einen Streit vom Zaun zu brechen und, wie immer, kein Kontra so bekommen. Mein Vater ließ sie einfach ziehen. Es war, als brülle sie eine Statue an. Er ließ sie schreien und toben, ließ sie zuschlagen und heulen. Er bot ihr weder Trost, noch ließ er sich von ihrer Wut anstecken.
Sie ging, doch nicht ohne vorher in mein Zimmer zu stürmen, in der Hoffnung, mich dort vorzufinden. Sie zerbrach, zerschlug und zertrat
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