Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Football vielleicht. Wer weiß. Oder Austern, oben im Norden. Lässt sich ordentlich Geld machen mit den kleinen Scheißdingern. Ich könnte auch in einer Mine arbeiten und mir ’n paar Goldklumpen in die Tasche stecken. Oder ein Handwerk lernen. Keine Ahnung. Irgendwas, bloß nicht Schuhputzer. Was ist mit dir? Gehst wahrscheinlich an die Uni, hab ich recht?»
Ich winde mich ein wenig. Fühle mich unbehaglich. Mit einem Mal erscheint es mir respektlos, darüber zu reden und sich über die Zukunft zu unterhalten, wo Laura Wishart gerade um ihre betrogen wurde. Es kommt mir unwichtig vor. Aber vielleicht ist das der Punkt. Vielleicht ist dieses ganze Gerede nur für Jasper. Vielleicht dient es dem gleichen Zweck wie diese schreckliche Flasche. Dem Versuch, unseren Verstand zu verlangsamen und etwas von der Panik aufzusaugen.
«Ich weiß es nicht», sage ich. «Ich habe schon immer gern gelesen und so. Bücher und Gedichte. Also werde ich vielleicht Schriftsteller. Das war für mich immer das Größte. Bücher zu schreiben. Geschichten zu erfinden.»
Ich gebe mir Mühe, es mit einem unentschlossenen Schulterzucken abzutun, wie einen flüchtigen Gedanken. So, als wäre es nicht mein einziger Herzenswunsch, seit ich lesen gelernt habe.
Zu meiner Überraschung nickt Jasper anerkennend.
«Ja. Das ist bestimmt dein Ding, Charlie.»
«Glaubst du?»
«Absolut. Du wärst bestimmt grandios. Ziehst mit einer Schreibmaschine in eine große Stadt. Triffst Leute und erzählst ihre Geschichten. Vielleicht kannst du irgendwann meine Geschichte aufschreiben. Dann machen wir einen Film draus. Ganz klar. Stell dir das nur mal vor.»
Und das tue ich. Jasper lässt es so vorstellbar und einleuchtend klingen, dass ich Corrigan verlassen könnte, um Schriftsteller zu werden und für Geld Geschichten zu erfinden. Richtig bedeutende Literatur. Wenn ich in Stimmung bin, stelle ich mich mir hin und wieder gern als berühmten Autor vor, in einem schmucklosen, von Kandelabern erleuchteten Ballsaal, in dem ich mit Beatpoeten und Schriftstellern wie Harper Lee und Truman Capote Witze reiße.
Jasper Jones unterbricht meine Gedanken. Er ist auf den Beinen und krümmt sich, beugt sich vor, als hätte ihm jemand in den Bauch geschossen. Bevor ich in Panik ausbrechen kann, gibt er in einem großen, fast leuchtenden Schwall das grässliche Gebräu von sich. Die leere Flasche hält er in der Hand. Sein Erbrochenes riecht säuerlich. Und es schießt nur so aus ihm heraus. Er sackt in sich zusammen, als würde er festgehalten und von unsichtbaren Angreifern in den Magen geboxt. Jasper würgt und hustet und hockt schwer atmend da. Dann spuckt er aus und stöhnt leise, ehe er sich abermals erbricht. Schließlich richtet er sich wieder auf.
«Hast du nicht gesagt, dass du einiges vertragen kannst?», frage ich.
Jasper spuckt noch einmal aus, wischt sich den Mund ab und lächelt. «Ja, kann ich auch. Bloß nicht sehr lang.»
Er dreht sich um und wankt zum Tümpel. Er geht in die Hocke und füllt die Flasche mit Wasser. Er sieht übel aus. Und bevor er etwas trinken kann, sackt er am Fuß des Baums wieder zusammen. Die Flasche zerbricht. Jasper ist weg vom Fenster. Komplett weggetreten. Vielleicht war es genau das, was er wollte.
Mir fällt auf, dass es auf der Lichtung plötzlich viel heller zu sein scheint. Zuerst frage ich mich, ob ich mich einfach an die Dunkelheit gewöhnt habe. Dann schieße ich hoch wie eine Feuerwerksrakete und rüttle ihn wach.
«Verdammter Mist, Jasper! Es dämmert bald! Wir müssen zurück. Und zwar gleich! Wenn meine Eltern merken, dass ich weg war, bin ich geliefert.»
Jasper blinzelt und hebt langsam den Kopf.
«Was?» Er scheint nachzudenken. «Ja, du hast recht. Also gut, Charlie, Augenblick.»
Seine Worte sind verzerrt. Jetzt habe ich wirklich Angst, dass wir uns auf dem Rückweg verirren könnten. Allerdings nicht halb so viel wie davor, dass meine Eltern mein leeres Bett entdecken. Nicht auszudenken.
«Nein, wir müssen sofort los!»
Jasper rappelt sich schwankend auf und stampft los. Er haut mir eine Hand auf die Schulter und schaut mich mit tiefem, aber leerem Blick kummervoll an. Sein Atem ist sauer.
«Alsklar. Kommit.»
Dann hält er inne. Zögernd und mit leichtem Schwanken schaut er an dem gespenstischen Eukalyptusbaum hoch. Trotz meiner Besorgnis dränge ich ihn nicht zur Eile. Noch einmal nimmt er alles in sich auf, ehe wir uns abwenden, um zu gehen.
Der Rückweg kommt mir wesentlich kürzer vor
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