Wer hat Tims Mutter entführt?
Eidechse.
Es gab, fünf Drahteselminuten
entfernt, einen Zeitungskiosk, wo auch Biertrinker rumlungerten — jene, die auf
dem Weg zum Gottesdienst eine Stärkung benötigten. Der Kioskmensch verkaufte
nebenbei Frankfurter Würstchen und Frikadellen, die nach
Sägemehl schmeckten — aber der Umsatz an Flaschenbier war mindestens zehnmal so
hoch.
Tim zog ein sommerleichtes,
weißes Sweatshirt an, steckte Geld ein — er hatte 200 Mark in Susannes
Nachttisch gefunden — und lief die Treppe hinunter.
Im Parterre öffnete sich die
Wohnungstür der Professorenwitwe, und Paula-Margarete Kernreuther blickte
heraus.
„Habe ich’s mir doch gedacht,
Tim. Dich erkenne ich am Schritt.“
Sie duftete nach Lavendel, nur
wenig nach Mottenpulver. Das silbrige Haar war hochgesteckt, und die Armbänder
klirrten.
Tim grinste so unbefangen wie
möglich und drückte ihr vorsichtig die zerbrechliche Hand.
„Ich bin gestern abend
angekommen. Wie geht’s Ihnen, Frau Kernreuther?“
„Ach, weißt du, wenn man
erstmal 82 ist... Ich wünschte, ich könnte noch mal 70 sein. Da habe ich mich
fast so jung gefühlt wie in meiner Backfischzeit. Willst du zur Kirche?“
„Nicht direkt“, meinte Tim.
„Wäre ja Sünde bei dem Wetter, wie? Kann ich irgendwas für Sie tun? Soll ich
Kuchen für Sie mitbringen — oder eine Zeitung?“
„Lieb von dir, Tim. Aber ich
habe alles, was ich brauche. Grüß deine Mutter! Einen schönen Sonntag für euch
beide.“ Tim erwiderte das. Und trat dann ins Freie.
Gerade noch rechtzeitig stand
er da, um zu bemerken, wie ein Taxi abfuhr.
Freilich — dem schenkte er
keinen zweiten Blick. Statt dessen weiteten sich seine Augen. Er ließ die Hand
auf dem Türknauf und rührte sich nicht. Weil er gerade die Beine x-förmig
kreuzte, sich in der Hüfte verdrehte, den Arm am Türknauf hinter sich streckte
und die Zungenspitze mit den Zähnen festhielt — deshalb also bot er nicht
unbedingt den Anblick des super-sportlichen TKKG-Anführers.
Die drei kamen durchs
Gartentor.
Gaby lächelte wie ein Veilchen
nach dem Sommerregen und ließ ihre Reisetasche von Karl und Klößchen tragen.
Die Brillengläser des
Gedächtniskünstlers blitzten in der Vormittagssonne.
Klößchen hatte Schokolade im
Mund und sagte durch zwei Brocken hindurch: „So behämmert hat er noch nie
ausgesehen. Hält er uns für Marsmenschen?“
„Guten Morgen“, flötete Gaby.
„Sind wir hier richtig bei Peter Carsten?“
„Äh... wo... wo kommt ihr denn
her?“
„Fällt dir nichts anderes ein
zur Begrüßung?“ Gaby legte ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf
herunter, was ihn wegen seiner verdrehten Haltung beinahe zu Fall brachte. Er
erhielt ein liebes, sozusagen tröstendes Bussi.
„Wie ist die Lage? Hast du was
von deiner Mutter gehört? Ist sie zurück?“
Tim holte tief Luft. „Wahnsinn!
Seid ihr... von zu Hause gekommen? Warum habt ihr nicht angerufen? Ich dachte,
ihr ruft an.“
„Es sollte eine Überraschung
werden“, grinste Karl und schlug ihm kräftig auf die Schulter, wobei er sich
fast die Hand verstauchte. „Falls sich der vermißte Zustand deiner Mutter noch
nicht geändert hat, sind wir hier, um dir beizustehen. Ist ja schließlich unser
Motto, daß wir zusammenhalten — besonders in schlimmster Not. Oder?“
„Wahnsinn!“ Tim breitete die
Arme aus und umarmte alle drei. „Das vergesse ich euch nicht. Wenn ihr wüßtet,
wie ich Unterstützung gebrauchen kann. Seit dem späten Abend hat die Lage sich
verschärft. Meine Mutter ist gekidnappt worden. Die Entführer verlangen eine
halbe Million.“
Er ließ die drei los, damit sie
wieder atmen konnten.
„Da muß ich sofort mit dem
Schoko-Fabrikanten Sauerlich fernsprechen“, rief Klößchen, „der ja mein Vater
ist und jede Menge Kohle macht mit unseren Kakao-Produkten. Morgen mittag kann
das Geld dann hier sein und
„Das Geld wird bereits
gestellt. Vom Chef meiner Mutter. Aber das erzähle ich gleich genau. Erstmal
rein mit euch. Leute, ist das eine Freude! Jetzt bin ich gemütsmäßig gleich
drei Treppen hochgefallen.“
Er schob seine Freunde ins
Haus. Gaby und Karl hatten vollgestopfte Reisetaschen. Klößchen schulterte
seinen neuen lilafarbenen City-Rucksack. Der Inhalt bestand vermutlich
größtenteils aus Schokolade.
„Die rechtliche Grundlage
unserer Anreise“, erklärte Karl, „ist gewissermaßen verzwickt. Da wir davon
ausgehen, daß eine rechtzeitige Rückkehr zum morgigen Unterricht nicht gegeben
ist. Richtig?
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