Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
er die heimgekommene Constanze ein paar Minuten wortreich seine Wandlung zum Guten hatte preisen lassen, seinen demnächst anstehenden Auszug in eines der nahe gelegenen Problemviertel der Stadt.
Und weil er sich die Geschichte nun schon mal für den Makler ausgedacht hatte, tischte er auch Constanze die Sache mit dem Buch als dem wahren Grund für diese Entscheidung auf. Dass sich dadurch gleichzeitig die Möglichkeit ergebe, ihre Beziehung aufzufrischen, stellte er als zufälligen, aber nicht unwillkommenen Nebeneffekt dar: Distanz, die neues Begehren schaffte.
Ansonsten würde sich gar nicht so viel ändern zwischen ihnen. Sie würden sich natürlich weiterhin regelmäßig sehen, beispielsweise an den Sonnabenden. Er, Kai, würde einkaufen, kochen und zusammen mit den Kindern könnten sie dann zu Mittag essen. Wie jede andere Familie auch. Und vielleicht am Nachmittag sogar noch Kaffee zusammen trinken. Mit selbst gebackenen Waffeln und Schlagsahne. So wie früher, als die Kinder noch richtige Kinder gewesen waren.
Er war jedenfalls wild entschlossen, sich eine Tür aufzuhalten, durch die er zu Constanze und ihrem Lebensstil der gesunden Nachhaltigkeit und vor allem auch der kulinarischen Ausgewogenheit zurückkehren konnte. Und wenn es nur einmal pro Woche war.
Einen Augenaufschlag lang schien Constanze keine Luft zu bekommen, aber bereits im nächsten Moment, noch ehe Kai aufstehen und sie stützen konnte, straffte sich ihr Körper, atmete sie tief aus und sagte mit tiefer Stimme und sehr bestimmt: »So soll es denn sein.«
Van Harm stutzte. Jedenfalls innerlich. Versuchte hastig seinen eben geäußerten Worten noch einmal nachzuspüren, um den Haken ausfindig zu machen, der Constanzes schnelles Einverständnis bewirkt hatte. Denn er hatte mit Schreierei, mit händeringenden Appellen, mit körperlichem Zusammenbruch und zertrümmertem Geschirr gerechnet. Nur mit einem nicht: mit ihrer schnellen, unkomplizierten Einwilligung.
»Aber eines lass mich ergänzend anfügen«, sagte Constanze und ging zum Kühlschrank hinüber, um sich aus einer angebrochenen Flasche Riesling ein Glas einzugießen: »Auf die gemeinsamen Sonnabende würde ich bis auf Weiteres gerne verzichten wollen. Überhaupt wäre es mir lieb, wenn du die Wohnung hier nicht ohne mein Wissen betrittst. Was bedeutet, dass du mir deine Schlüssel geben wirst. Ist das so in Ordnung für dich?«
»Na wenn du meinst, dass das nötig ist.«
»Ja, das meine ich. Falls du die Kinder treffen willst, könnt ihr euch ja irgendwo draußen verabreden, in einem Café, einem Restaurant. Oder ihr könnt ins Kino gehen. Wenn das Wetter wieder besser ist, in einen Park. Was weiß ich. Oder sie kommen dich einfach besuchen in deinem neuen Problemkiez . Ihr findet da schon eine Lösung.«
»Und falls sie mich gar nicht sehen wollen ? Du weißt, wir haben im Moment ein schwieriges Verhältnis. Und dann noch die Sache mit dem Umzug. Die glauben mir doch nie im Leben, dass ich wegen eines Buches nach Neukölln ziehe. Die denken sich doch was weiß ich für Gründe aus. Jedenfalls was ganz anderes. Und das gereicht mir dann mit Sicherheit nicht zum Vorteil.«
»Ach, meinen Glückwunsch übrigens zu deinem Entschluss, ein Buch zu schreiben«, sagte Constanze und schenkte sich Wein nach, obwohl sie ihr erstes Glas noch gar nicht ausgetrunken hatte. »Ich wusste gar nicht, dass du so mitfühlend bist. Fandest du diese Leute früher nicht ungebildet und barbarisch? Und jetzt willst du dich mit einem Mal unter sie mischen.«
»Na ja, nicht gleich mischen. Es kann eben jeden treffen: heute noch bürgerliche Existenz und morgen schon Unterschicht. Du musst es so sehen: Meine eigene Arbeitslosigkeit hat mich sensibilisiert. Aber weißt du, was mich am allermeisten aufgerüttelt hat?«
»Nein.«
»Das warst du , meine liebe Conny. Gestern. Mit dem leidenschaftlichen Vortrag, den du mir gehalten hast«, log van Harm und wurde diesmal nicht rot.
Constanze verzog als Antwort keine Miene.
Neukölle Alaaf!
Familie, Karriere, Altersabsicherung? Pah! Plötzlich waren das alles nur noch Worthülsen aus einer anderen Sphäre, aus einer Parallelwelt der Sorglosigkeit. Fremdwörter geradezu. Genau so wie Loup de Mer, Fleur de Sel, Piment de Espelette , Noilly Prat oder Haut Medoc . Die Zahl der Wörter, die sich ihm entfremdeten, wurde allmählich Legion. Und sie wuchs täglich. Dabei war es gar nicht so, dass nur arme Schweine im Viertel lebten. Van Harms Nachbarin zur
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