Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Undercover-Reportage von Günter Wallraff. Also wie Günter Wallraff selbst. Das heißt: verkleidet und präpariert. Wie der Hinterwäldlerischste derer vom Bosporus, den sich ein deutscher Eingeborener in den siebziger Jahren vorstellen konnte. Ein so genannter Autochthoner. Ein völlig vertrottelter.
Nun: Angst hatte er nur vor den Jungen, die hier, häufiger als in Kreuzberg, laut krakeelend um den Block zogen. In Banden von zehn, zwanzig, manchmal sogar von noch mehr Burschen. Die ihre Hosen in die Tennissocken stopften, rasierte Zickzackmuster in den Haaren hatten und, was van Harm bemerkenswert fand, nicht nur häufig in weißen, manchmal sogar rosa Sachen steckten, in aufgeblasenen Blousons oder weiten Hosen aus Fallschirmseide, sondern oft Brauen über den finster blickenden Augen trugen, die ebenso akkurat zu dünnen Strichen gezupft waren wie die von van Harms penetrant fröhlicher Nachbarin zur Rechten. Deren Name im Übrigen Peggy lautete. Kongenialerweise.
Einmal bisher war van Harm wie aus dem Nichts in die Mitte eines solchen Jungmännertrupps geraten. Eben noch arglos den Bürgersteig entlangflaniert, grazil die Hundehaufen umschifft, eine Sekunde unaufmerksam und im nächsten Moment schon mittendrin gewesen. Von Testosteron umbrandet und von süßlichem Aftershave. Und von einer Sprache, die noch schlimmer war als jene der Politiker, wenn sie vor die Fernsehmikrofone traten, um ihre nichtswürdigen Ansichten in den Äther zu stammeln. Ein grammatikalischer Amoklauf, versetzt mit Grunzlauten und rollenden R-Gewittern. Mit Obszönitäten, verpackt in leicht verrutschte oder sprachlich schiefe Bilder und immer wieder von der monoton gebellten Behauptung unterbrochen, er, van Harm, sei in der körperlichen Liebe nicht den Frauen zugetan, sondern Angehörigen des eigenen Geschlechts. Praktisch schwul.
Van Harm mochte gar nicht wissen, wie eines ihrer Schuldiktate aussah, wenn sie schon derart redeten.
Aus der Distanz hatte es sicherlich komisch gewirkt: ein Trupp aufgeputzter, femininer Jungen, der einen seriös wirkenden Mann in einem konservativen Anzug und in seinen besten Jahren fanatisch umschwärmt. Ein Trupp, aus dem sich immer wieder einer löste, um van Harm balzend zu umtanzen oder sich für kurze, wollüstige Augenblicke am Stoff seines Mantels zu reiben, um ihm die Strickmütze vom Kopf zu ziehen und sie einem seiner gleichfalls neckisch werbenden Kameraden zuzuwerfen. Um ihm einen leichten Schlag auf den Rücken oder den Hinterkopf zu geben. Oder um ihm spielerisch den Ellbogen in die Rippen zu stoßen.
Unten auf der Straße, inmitten dieses Haufens infantiler Großprotze, die unfähig waren sich anständig und ihren pubertär-maskulinen Intentionen gemäß zu kleiden, sah die Sache schon anders aus. Noch nie in seinem Leben hatte van Harm solche Angst verspürt und war gleichzeitig so ratlos gewesen, was er hätte tun können, um die verfahrene Situation zu entspannen. Davon, dass sie Zeichen nicht lesen konnten, zeugte schon ihre Aufmachung, die sie im Zusammenspiel mit ihrem aggressiven Auftreten wirken ließ wie eine Bande Klemmschwestern, die sich mit der Brechstange ihrer Heterosexualität versichern wollte. Deshalb konnte alles, was van Harm jetzt zur Beschwichtigung sagen würde, auch genau das Gegenteil auslösen. Doch auch sein Schweigen konnte missdeutet werden, als Arroganz oder gar als Schmerzresistenz, die man durchaus mit härteren Schlägen und gezielteren Tritten zu überwinden versuchen könnte.
Van Harm hatte sich schon aufgegeben, bereit, allein dem Schicksal die Entscheidung über den Fortlauf der Auseinandersetzung zu überlassen, als er von zwei Männern gerettet wurde: von Herrn Bigül und einem von dessen Kumpels. Ein paar harte Worte in seiner Muttersprache und ein drohend geschwungener Gehstock genügten Herrn Bigül, die Horde zu zerstreuen. Die Jungen ließen sofort von van Harm ab und schlenderten breitbeinig und betont langsam zur nächsten Straßenecke, wo sie allesamt abbogen. Als sie außer Sicht waren, begannen sie, laute höhnische Sprüche zu rufen, einige auf Türkisch, wohl an Herrn Bigül adressiert, ein paar aber auch an van Harm, in jener Spielart des Deutschen, die sich nicht sehr elegant anhörte, aber immerhin verständlich war. So wie das universelle Pidgin-English.
Dann war der Spuk vorbei, und erst als sich van Harm bei seinen Rettern bedanken wollte, merkte er, dass es gar nicht der richtige Herr Bigül war, der aus dem Feinkostladen
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