Wer im Trueben fischt
im Rollstuhl hörte die Stimmen auf dem Flur. Türen klappten, Gummisohlen quietschten. Dann war es wieder still. Nur das ferne Gemurmel der Festgesellschaft war noch zu hören. Alexander kam wieder herein, stellte sich hinter den Rollstuhl und fuhr ihn zur Tür. Heinrich versuchte die Hand des Sohnes zu tasten, aber sein Körper war zu steif, um sich so weit zu drehen.
»Alexander …«
»Wir reden später darüber, Papa.«
»Nein, hör mir zu. Wir haben alle unsere Dämonen. Es ist schwer, mit ihnen zu leben.«
»Deine Gäste warten.«
E mma fuhr mit der Bahn zurück zum Alexanderplatz.
Ihre rechte Hand umschloss in der Tasche das Aufnahmegerät, als könnten die gespeicherten Worte bei dem Rütteln der Bahn zusammenfallen und den Sinn verlieren. An jeder Station stiegen Leute zu, langsam füllte sich das Abteil. Emma sah aus dem Fenster, erste Wohnblocks und Einkaufshäuser rauschten vorbei, Berlin wurde wieder zur Stadt. Eine Reisegruppe verschüttete Sekt aus dem Piccolo und lachte kreischend, ein Paar gegenüber unterhielt sich über eine Ausstellung. Emma bekam von alldem nichts mit. Ihre Gedanken waren noch immer bei dem alten Mann in der Villa. Hatte er Miriam wirklich eine Entschädigung angeboten? Oder war er wirr im Kopf, wie Martha behauptete, und legte sich die Vergangenheit zurecht? Was wusste der Sohn? Hatte er tatsächlich einen Neonazi um Hilfe gebeten? Emma dachte an ihren Besuch beim Baustoffhandel. Der Riese mit der kranken Katze, der von Verantwortung redete. Hatte Siebenschläger Rosenberg umgebracht? Der Mord an Rosenberg war kaltblütig geplant, das Insulin manipuliert, kein Totschlag im Affekt. All das aus Gefälligkeit?
In ihrer Wohnung warf sie den Anzug aufs Bett und stieg wieder in ihre Jeans. Der Zettel für Penelopes Mutter, den sie an die Wohnungstür geklebt hatte, war weg. Sie nahm Jacke und Tasche und ging mechanisch die Stufen hinunter, alle zwölf Stockwerke. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um Vater und Sohn Bohmann. Sie spürte, dass ihr noch ein Puzzlestück fehlte. Welche Rolle spielen dabei die jungen Fische, dachte sie. Vielleicht hatte Blume Recht, und es war nur ein dummer Zufall, dass ausgerechnet diese Fotografie auf dem Nachttisch von Tom Rosenberg gestanden hatte. Andererseits wäre der alte Bohmann vor Schreck beinahe umgekippt, als sie es erwähnte. Was hatte er gesagt? Er sei ein weißer Jude, schlimmer als die Sippe. Was meinte er damit?
Unten wäre sie fast weiter bis in den Keller gegangen. Nach zwei Stufen bemerkte sie ihren Irrtum, lief zurück und ging an den Briefkästen vorbei. Das Handy hatte sie eingesteckt. Ein Anruf in Abwesenheit. Blume hatte versucht sie zu erreichen, aber sie wollte ihn jetzt nicht sprechen. Sie hatte keine Zeit, über sie beide nachzudenken. Sie hatte das Gefühl, sie musste rennen. Rennen, bevor etwas sie aufhielt. Siebenschläger oder Bohmann, der Rundfunkrat oder ihre Angst.
Der Wind schlug ihr die Haustür fast aus den Armen. Emma stellte den Kragen ihrer Jacke hoch, wickelte ihre Arme um den Körper und lief in Richtung Krankenhaus.
I n der Villa ging das Fest langsam zu Ende. Alte Leute wollen früh ins Bett. Die Fernsehcrew stand schon seit einer halben Stunde zur Abfahrt bereit. Sie hatten die Reden gefilmt und Glückwünsche der prominenteren Gäste aufgenommen. Es hatte Hochrufe gegeben, und bei dem Wunsch nach Gesundheit hatten alle ihr Glas erhoben. Die Kabel waren eingerollt, die Kameras verstaut. Aber dann ging Meyer-Latour auf die Fernsehjournalistin zu und reichte ihr ein neues Glas Champagner. Sie kannten sich von vielen öffentlichen Veranstaltungen. Meyer-Latour erzählte im Plauderton, wo sie sich schon begegnet waren und welche Bedeutung er bei jedem einzelnen Fest gehabt hatte. Er wusste viele Details und unterhielt sich glänzend. Die Fernsehjournalistin nippte am Alkohol und stimmte von Zeit zu Zeit in sein Gelächter ein. Dabei sah sie unauffällig auf ihre elegante Armbanduhr. In ein paar Stunden musste der Bericht für die Abendsendung fertig sein. Die Crew wurde nervös, aber sie stand wie ein Fels. Einen wie Meyer-Latour stieß man nicht vor den Kopf, wenn man in dieser Stadt noch was werden wollte.
Alexander Bohmann trat auf die beiden zu und bat den Verleger um ein vertrauliches Gespräch. Sicher, meinte Meyer-Latour und legte seine Hand auf die Schulter von Bohmann. Sie entschuldigten sich bei der Journalistin und gingen ins angrenzende Billardzimmer. Die Frau nickte den anderen zu.
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