Wer im Trueben fischt
vielleicht auch bald, wenn Sie so weitermachen.«
Emma war zu wütend, um Angst zu spüren.
»Sie haben von den Akten geredet. Es gibt immer Beweise. Man muss nur gut genug suchen.«
»Sie werden nicht an diese Akten kommen. Sie sind nur für Familienmitglieder einsehbar.«
Er stand auf und strich sich über sein gelähmtes Bein.
»Bitte gehen Sie endlich.«
Sie stand auf und nahm ihre Tasche. An der Tür drehte sie sich um. Sie sagte leise:
»Ich werde das hier nicht ruhen lassen. Ich kann es nicht.«
Er sah sie erschöpft an.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage. Aber manchmal ist es gut, nicht zu wissen.«
L angsam ging Emma die stille Seitenstraße entlang. An der Ecke hatte ein Spätkauf geöffnet, ein Schwall warmer Luft streifte sie im Vorbeigehen. Ein Mann mit einem Stapel Obdachlosenzeitungen stand an der Tür. Er trug ein Jackett und eine zerknitterte Hose, zu dünn für den kalten Wind. Die Leute, die aus dem Spätkauf kamen, machten einen Bogen um ihn. Ein älterer sehr dicker Mann schob seinen Einkaufswagen zurück in die Abstellspur, kettete ihn fest an die anderen und drückte dem Obdachlosen das herausgenommene Geldstück in die Hand, ohne ihn anzusehen. Der Mann nahm den Euro und beugte dabei seinen Rücken wie ein getretener Hund. Ein Mann kam mit seinem kleinen Sohn an der Hand aus dem Laden. Er trug einen Rucksack, aus dem eine Lauchstange ragte. Der Junge blieb mit großen Augen vor dem Obdachlosen stehen. Der lächelte ihn an. Der Kleine wollte gerade etwas zu seinem Vater sagen, da zog der ihn weiter. Sie gingen schnell die Straße entlang, an Emma vorbei, ohne den Kopf zu heben. Emma sah ihnen hinterher, bis sie um die Ecke verschwanden. Sie lehnte sich für einen Moment an einen Baum und schloss die Augen. Ihr war schlecht vor Wut und Traurigkeit und vielleicht auch vor Hunger. Sie dachte an Väter, an solche, die ihre Kinder nicht aufwachsen sehen können, wie Carl Rosenberg, und an solche, die ihre Kinder nicht sehen wollen, wie ihr eigener Vater. Kinder fühlen sich schuldig, wenn die Eltern wütend sind, das hatte Emma von Ida gelernt. Ihre fröhliche kleine Schwester hatte sich immer verkrochen, wenn der Vater vorbeikam.
Tom Rosenberg hatte die offene Rechnung seiner Leute übernommen. Er wollte wissen, was passiert war, er schrieb ein Buch darüber, und es hatte ihn berühmt gemacht. Die Referentin hatte gesagt, er wäre ein schwieriger Mann gewesen, ungeduldig und ruppig. Hatte er die Wut seiner Familie geerbt? Und wollte er deshalb unbedingt die Wahrheit herausfinden? Hoffte er, der Wut endlich zu entkommen?
Auch Waldreich hatte die Gefühle seines Vaters übernommen. Ein stolzer Mann wird um sein Lebenswerk gebracht. Und sein Sohn leidet mit, obwohl er weiß, dass der Vater die Schmach verdient hat. Er ist wütend, und er schämt sich. Es muss ihn innerlich zerrissen haben.
Als sich Waldreich die Gelegenheit bietet, rächt er den Vater. Er spürt, wie wichtig es Rosenberg ist, die Wahrheit herauszufinden. Und er nutzt das Wissen über den Großvater, um ihm die Jahre der Scham heimzuzahlen.
Langsam ging Emma in die Hocke. Mit dem Rücken lehnte sie an der feuchten Rinde. Niemand nahm Notiz von ihr.
Rosenberg war bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Er hatte seine Professur aufgegeben. Aber das reichte irgendjemandem nicht. Als es um die persönliche Geschichte seiner Großeltern ging, musste er mit dem Leben bezahlen.
Emma stand auf, schob sich den Trageriemen ihrer Tasche auf die Schulter und ging langsam zu ihrem Fahrrad zurück. Das Schloss klemmte, und sie rüttelte daran. Sie holte tief Luft und blieb einen Moment ruhig stehen. Sie sah Jenni vor sich. Wie sie im Gerichtssaal saß, die Lippen zusammengepresst, die Augen schwarz umrandet starrten ohne Regung auf den Richter. Sie war fünfzehn Jahre.
Das Schloss gab nach, und Emma schob ihr Rad zur nächsten S-Bahn-Haltestelle. Sie wischte sich mit dem Arm über das Gesicht. Hatte sie selber Wut übernommen? Stand sie so unter Strom, weil sie hoffte, ihrem schlechten Gewissen zu entkommen?
Sie wusste noch, wie sicher sie war, das Richtige zu tun. Wehr dich, hatte sie zu Jenni gesagt, ich bin an deiner Seite. Aber nach dem Freispruch riefen die Freundinnen nicht mehr an, und die Jungs betatschten sie auf dem Schulhof. Die Lehrer waren verlegen, und die Eltern warfen sich zweifelnde Blicke zu. Und hatte sie, Emma, ihnen nicht die Munition geliefert mit ihren Berichten von dem fünfzehnjährigen
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