Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen
sofort in einer beeindruckenden Lautstärke los. »GUTEN MORGEN! TOLLE FARBE, DEIN PULLOVER! WIR HABEN JA GLEICH EIN MEETING WEGEN DER LIPGLOSS-LINIE, UND DA WOLLTE ICH DICH SCHON MAL FRAGEN, OB …«
Nach einem ausgesprochen ermüdenden Gespräch über das Für und Wider von Minispiegeln, die man auf den Deckel von Lipglosshülsen kleben könnte, lässt Anita mich zumindest vorübergehend aus dem Schraubstock ihres Geschreis. Endlich komme ich dazu, meine Mails zu checken. Die IT-Abteilung fordert alle Angestellten auf, endlich die Bilder der letzten fünf Weihnachtsfeiern privat zu sichern und vom Server zu entfernen. Und meine Mutter schickt mir einen Link zu einem mehrseitigen Artikel eines Onlinemagazins, der den Titel Die besten Honeymoon-Hotels trägt. Danke, Mama, dass du mich daran erinnerst, dass Mark mich nicht heiratet.
Sie meint es natürlich nicht böse. Meine Mutter würde sich nur so schrecklich freuen, wenn wir endlich heirateten. Und ich mich ja auch, das weiß sie. Nur scheint sie davon auszugehen, dass Mark das im Grunde seines Herzens auch herbeisehnt, und ich glaube das nicht. Als letztes Jahr die Einladung zur Hochzeit von Klaus in unserem Briefkasten lag, hat er ein Gesicht gemacht, als müsste er sich gleich übergeben. Dann hat er sich ins Wohnzimmer eingeschlossen, aber durch die Tür konnte ich seine Worte gut verstehen: »Klaus! Was soll das jetzt? Ist sie schwanger, oder warum musst du sie auf einmal heiraten? Ich kenne einen guten Anwalt! Wir holen dich da raus!«
Natürlich wollte Klaus gar nicht da rausgeholt werden. Er liebt Tina, und schwanger war sie auch nicht. Ganz ohne Not hat er sie geheiratet, einfach so, weil er wollte und sie auch. Manchmal sind die Dinge so einfach. Nur mein Freund ist ein Gestörter. Ein Beziehungsneurotiker. Was man im Alltag nicht merkt, sondern nur, wenn es ums Heiraten geht. Ich schicke dem Gestörten eine SMS: Bist du heute morgen über meinen Koffer gefallen, oder hab ich das geträumt? Jedenfalls hoffe ich, du bist unverletzt. Denn morgen fahren wir weg!
Dann schnappe ich mir meine Unterlagen und gehe zum Lipgloss-Meeting. Schon an der Tür erwartet mich unser Produktdesignchef, ein schräger Vogel. Er sieht aus wie ein von Hugo Boss eingekleideter Bergführer, spricht und gestikuliert wie Harald Glööckler. Frauen halten ihn anfangs für schwul, verabreden sich mit ihm für einen DVD-Abend, und ehe sie sich’s versehen, wälzen sie sich bereits mit ihm durch die Laken. Dieser Mann ist ein Trojanisches Pferd, aus dem nachts Sex krabbelt. Das weiß ich aber nur, weil eine unserer Grafikerinnen mal auf ihn reingefallen ist und mich am nächsten Morgen an der Kaffeemaschine entsetzt gefragt hat: »Wusstest du, dass Mike mit Frauen schläft?«
Mit mir hat Mike aber gerade etwas ganz anderes vor. Er hebt zu einem dieser Sätze an, die mit »Du findest doch auch, dass …« beginnen und mich grundsätzlich misstrauisch machen. Braucht er eine Mehrheit für irgendeine Schnapsidee und hofft, ich wäre gleichgültig genug, ihn zu unterstützen?
»Lass uns darüber doch gleich im Plenum sprechen«, unterbreche ich ihn zuckersüß. Dann setze ich mich an den Konferenztisch und schalte auf Autopilot. Es geht um die ideale Glosskonsistenz, die ideale Farbpalette und die ideale Packungsgröße.
Manchmal kann ich es nicht glauben, dass ich Kunstgeschichte studiert habe, um dann über Make-up zu diskutieren. Nicht, dass ich selbst künstlerisch veranlagt wäre. Ich kann kein bisschen malen und habe auch beim Töpferkurs in der Unterstufe nur einen windschiefen Aschenbecher zustande gebracht. Umso mehr bewundere ich Maler und Bildhauer. Und Lyriker. Wenn ich kreativer und begabter wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich gerade meine nächste Ausstellung vorbereiten oder mich mit meinem Übersetzer ins Finnische treffen. Bin ich aber nicht. Also heißt es für mich: Lipgloss-Konferenz.
»Wir haben uns gedacht, man könnte einen integrierten Spiegel leicht puderfarben einfärben«, sagt Mike gerade. »Auf diese Weise sähe die Kundin darin ebenmäßiger und gebräunter aus. Eine farbgetreue Wiedergabe der Realität ist sowieso unnötig, weil die Kundin ja eigentlich nur wissen will, ob sie mit dem Applikationsschwämmchen ihre Lippen richtig trifft.«
Die Kollegin aus dem Marketing, die immer gegen alles ist, meldet sich sofort zu Wort. »Das ist eine totale Kundenverarsche! Die Frauen wollen heutzutage genau so aussehen, wie sie aussehen, und nicht
Weitere Kostenlose Bücher