Wer ist eigentlich Paul?
mit ihm. Sie verbinden uns nicht. Das ist einseitig. Dann fange ich an, mich zu fragen, wo er gerade steckt, ob er schon auf ist oder noch schläft, wie er wohl aussieht, wenn er träumt, ob er morgens im Bad auch mit dem Gesicht ganz nahe an den Spiegel geht und nachsieht, ob er noch derselbe ist wie gestern Abend. In solchen Momenten frage ich mich, ob er an mich denkt und wenn, wie und was er denkt. Ob er mich vermisst und wenn, wie sich das für ihn anfühlt. Ob Paul auch dieses warme Ziehen irgendwo zwischen Herz und Magen kennt, das einem die Tränen in die Augen treibt, wenn man sich darauf konzentriert. Ob er auch stille Zwiegespräche mit mir führt und sich im Geist Dinge und Ereignisse notiert, über die er mit mir sprechen will. Diese Phasen sind weniger angenehm. Exzessives Arbeiten, komplizierte Diskussionen, die Probleme anderer Menschen, laute Musik, Tanzen, Sport oder Alkohol helfen dagegen. Aber das ist anstrengend. Es geht an die Substanz. Doch mit etwas gutem Willen bin ich bald wieder in meinem Normalzustand. Im «You are always on my mind»-Zustand.
MITTWOCH, 15. JANUAR 2003 – WOHNUNGSPUTZ
Paul kommt mich besuchen! Morgen Abend kommt er vorbei, wir werden zusammen etwas essen, vielleicht eine DVD anschauen und dann … Er meinte, er würde über Nacht bleiben, wenn er dürfe … Aber von vorne.
Gestern Abend ging ich ins Bett und stellte wie immer den Wecker meines Handys auf sieben Uhr. (Was nicht heißt, dass ich um sieben Uhr aufstehe. Vor neun Uhr morgens habe ich meistens so seltsame Kreislaufbeschwerden, ich kann dann nicht sprechen, geschweige denn arbeiten oder sonst etwas Sinnvolles tun. Aber ich liebe es, um sieben Uhr aufzuwachen, dämliche Guten-Morgen-Sendungen auf Radio Gong oder Energy oder Bayern 3 anzuhören, zu wissen, dass die meisten Berufstätigen jetzt schon frierend an den Bushaltestellen warten, und mich nochmal dekadent unter meine Decke zu kuscheln, die morgens grundsätzlich viel weicher ist als abends.) Normalerweise schalte ich das Handy, nachdem ich den Wecker gestellt habe, über Nacht aus. Gestern nicht. Keine Ahnung, weshalb.
Um ein Uhr nachts wurde ich vom dezenten «Fiiiiep» meines Mobiltelefons wach. Ich blickte neben mein Bett und sah ein grünes Leuchten. «1 Kurzmitteilung erhalten». Leicht genervt tippte ich auf «Anzeigen». Sicher eine Werbe-SMS. Weit gefehlt. «Paul» stand da, und ich fing wie immer blödsinnig an zu zittern. «Marie, ich muss dich sehen. Ich denke gerade an dich. Ich will von dir angefasst werden, dich anfassen, unsere Körper ineinander verschlungen, will in dir sein!»
«Ich will dich auch so gerne spüren», schrieb ich zurück und ließ eine recht detaillierte Schilderung der Küsse folgen, die ich auf seinem Körper und dort an ganz bestimmten Regionen platzieren würde. Und dann wurde es richtig heiß. Kurz kam mirdie Idee, ihn anzurufen und das Ganze per Telefon weiterzuführen, aber ich verwarf diese Idee schnell wieder. Schon komisch, diese Gemeinsamkeit zwischen Paul und mir. Wir sind beide Schriftmenschen und telefonieren nicht gerne. Etwa 20 SMS und anderthalb Stunden später hatten wir verabredet, uns am übernächsten Abend – Donnerstag – zu treffen. In seiner Wohnung ginge es diesmal leider nicht, schrieb Paul, seine Schwester aus Hamburg wohne diese Woche mit ihrem kleinen Sohn bei ihm. Kein Problem, ließ ich ihn wissen und lud ihn zu mir ein. Er könne es kaum erwarten, müsse jetzt leider schlafen, «Süße», lautete seine letzte SMS. Den Kopf voller unanständiger Ideen, schmutziger Phantasien und warmer, seliger Vorfreude schlief ich schließlich gegen vier Uhr morgens ein.
Vor fünf Minuten klingelte dann mein Wecker. Kreislauf hin, Kreislauf her, ich stehe schon unter der Dusche und versuche, nicht daran zu denken, dass ich nur drei Stunden geschlafen habe. Ich habe heute viel zu tun. Ich muss in die Staatsbibliothek, zu meiner Professorin, dann einkaufen – nein, vorher überlegen, was ich für Paul kochen könnte. Dann einkaufen und die Wohnung putzen. Das Bett frisch beziehen muss ich auch. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich auf einen Wohnungsputz freue! Und ich werde alles heute erledigen, denn morgen muss ich arbeiten.
Ich tappe aus der Dusche und suche Musik zum Wachwerden. Etwas Fröhliches muss her, Reamonn hat jetzt ausge«weep»t! Das Leben ist schön, ich weiß gar nicht, warum ich in den letzten Wochen so viel Trübsal geblasen habe.
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