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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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begegneten, wusste Lewadski: Es gibt kein Zurück.
    In einem tschetschenischen Gebirgsdorf auf einer Seehöhe von 2050 Metern wurde Lewadski zum Hirten, Lewadskis Mutter zur Ehefrau des Dorfältesten und zur Zierde des Dorfes, eine Ehre, die sie ihrer in Folge eines Eisenmangels bleichen Haut verdankte. Von seinem Stiefvater bekam Lewadski eine hohe Mütze aus Schafsfell, die sein halbes Gesicht verdeckte. Lewadski trug sie und sah damit aus wie die anderen augenlosen Männer, die überall auf einen Hirtenstab gestützt dösten. Langsam schloss Lewadski die Mütze ins Herz. Darunter glaubte er klar denken zu können. So absurd war die hohe Fellmütze gar nicht. Tagsüber schützte sie Lewadskis Kopf vor der Hitze, abends vor der Kälte. Auch hier hauchte der liebe Gott allen Dingen Zweckmäßigkeit ein, die der Mensch erschaffen durfte.
    Als Lewadski nach einem Jahr Hirtendasein mit dem Gedanken spielte, sich von der Mutter zu verabschieden und sein Studium wiederaufzunehmen, marschierten deutsche Soldaten in Polen ein. Die Sintflut überschwemmte das Land. Sie überschwemmte Lemberg. Sie überschwemmte Stanislau, Tarnopol, Brody, Wälder und Sümpfe, sie leckte die Krallen der aufgescheuchten Vögel und schickte ihren fauligen Sintflutatem zu den Sternen. Die Sterne pfiffen auf die Sintflut, so wie sie schon immer auf die Sintflut gepfiffen hatten. Allein das war tröstlich. Das ornithologische Institut in Lemberg wurde bestimmt geschlossen, dachte Lewadski, die Vogelberingung kann ich wohl auch in diesem Jahr vergessen.
    Immer weiter nach Osten breitete sich die Sintflut aus. »Bis hierher schaffen sie es nicht«, sagte Lewadskis Mutter. Sie hatte recht. Die Deutschen wurden in Mosdok in Nordossetien gestoppt und erreichten Tschetschenien nie, was die Russen jedoch nicht daran hinderte, alle Tschetschenen in Züge zu pferchen und nach Zentralasien zu deportieren, als Verräter und Komplizen der deutschen Armee.
    Vielleicht lag es an der blendend weißen Haut von Lewadskis Mutter und an Lewadskis hohem Wuchs (er war zwei Köpfe größer als die anderen tschetschenischen Hirten), dass die beiden das Privileg genossen, in einem Kolchos arbeiten zu dürfen. Lewadskis Mutter molk von morgens bis abends Kühe und trauerte um ihren noch im Deportationszug verstorbenen zweiten Mann. Lewadski arbeitete sich vom Lastenträger zum 1. Sekretär des Kolchos hoch.
    Jahre später machte sich alles, was Beine hatte, auf den Weg: die Tschetschenen zurück nach Tschetschenien, Lewadski und seine Mutter zurück in ihr Dorf, das nun ein Teil der Ukraine war. Als sie aus dem Zug stiegen, blieb seine Mutter plötzlich stehen und fasste Lewadski am Ärmel, als hätte sie sich an einem Wort verschluckt. Dann gingen sie weiter.
    Sie schritten wie ein Liebespaar über zerfurchte und gefrorene Äcker auf das Dorf zu. Lewadski sah die Dorfhäuser verlegen wie von Kot bespritzte alte Bekannte aneinanderlehnen. Keines hatte sich von seinem Platz gerührt. Das Försterhaus hatte in den Jahren der Trennung sein Dach abgeschüttelt und voller Bitterkeit und vielleicht auch aus Trotz alle Türen und Fensterrahmen ausgespuckt. Blind und zerschlagen hockte es unter freiem Himmel.
    »Die Vogeltränke fehlt«, konstatierte Lewadskis Mutter und brach in Tränen aus. Die gräfliche Vogeltränke, das Geschenk des alten Grafen zu Lewadskis Geburt, war weg. Lewadskiwusste, dass sie in Goldpapier verpackt und mit Samtschleife versehen eingetroffen war, ein Geschenk so schicksalhaft wie die Bruchteile einer Sekunde, in der man einem Menschen in die Augen schaut, bevor man sich in eine verhängnisvolle Leidenschaft stürzt. Nun gab es von der Vogeltränke keine Spur mehr, und Lewadski fühlte sich für einen kurzen Augenblick so, als wäre er niemals geboren worden, als hätte er diese Jahre als wandelnde Traumblase verbracht, in der Einbildung, sie wäre der Kopf, der träumte. Als sie sich umdrehten und zum Bahnhof zurückgingen, war das unheimliche Gefühl weg.
    Lewadskis Mutter starb kurz nach Lewadskis Promotion in einem zugigen Lemberger Spital voller knarrender Betten. Das Husten, selbst das Seufzen der Patienten, wurde durch dieses beständige Knarren zu einer tragikomischen Angelegenheit. Lewadskis Mutter lachte unentwegt. Ihr Bett kicherte mit. Unentwegt sagte sie romantische Sätze. »Mein Herz ist ein gebrochenes Zuckerdöschen, mein Sohn, ein China-Bone-Tässchen ist das alte Herzchen deiner Mutter.« Die Diminutive kosteten sie viel Kraft, aber

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