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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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ein. »Alles wird gut«, sagte sie und legte ihre Hand auf Lewadskis Schulter.
    Es war ja alles gut, wollte Lewadski antworten und dabei losheulen. Doch er rührte sich nicht. Wie eine Säule in den Ruinen eines Palastes kam er sich vor, wie eine Säule, auf der ein Sommergoldhähnchen saß und ein Lied anstimmte.
    »Nur das kaukasische Sommergoldhähnchen fällt dir ein? Was habt ihr denn in Lemberg an der Universität getrieben, Herr im Himmel?« Lewadskis Mutter stand vom Stuhl auf. Von unten sah sie aus, als wäre sie in Lewadskis Abwesenheit still und heimlich gestorben. Auch Lewadski erhob sich und trat ans Fenster. Seine Mutter drehte sich zu ihm um. Welche Erleichterung! Aus dieser Perspektive sah sie aus wie eine alte Frau, verblühte Schönheit, blühende Verwesung, geballte Entschlossenheit.
    »Die Rothalsgans, mein Sohn. Branta ruficollis. Der Kaukasier liebste Speise. Habt ihr sie im Studium nicht durchgenommen?«
    »Wir haben hauptsächlich die Vögel Europas erforscht.«
    »Liebes Kind. Habt ihr keine Weltkarten, keine Augen im Kopf? Tschetschenien ist im Nordkaukasus und damit in Europa, wach auf!«
    »Wer sagt das?«, lachte Lewadski.
    »Ich und die Wissenschaft.«
    »Welche Wissenschaft?« Lewadksi schüttelte sich vor Lachen. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Oder waren es Schweißtropfen?
    »Weine nicht«, sagte Lewadskis Mutter. Lewadski winkte ab und heulte laut auf. »Kartographie, Geographie und menschliche Vernunft sagen das, mein Sohn«, setzte sie fort, »der Kaukasus liegt am Rande Europas, und der Elbrus ist somit unser höchster Berg.«
    In der Tat war die nordische Rothalsgans, die bunteste und schönste aller Meergänse, am Studenten Lewadski geräuschlos vorbeigeflogen. Wie konnte er leben, lernen, Honig-Wodka trinken, ohne zu wissen, dass es die Rothalsgans gab, dass sie in der Tundra Westsibiriens brütete und an der südlichen Westküste des Kaspischen Meeres überwinterte? Es war ihm selbst ein Rätsel.
    »Ist sie wirklich so ein Prachtvogel, die Rothalsgans?«, fragte Lewadski verweint.
    »Ja«, sagte seine Mutter und reichte ihm ihr mit quadratischen Blumenkelchen besticktes Taschentuch.
    »Kommen sie in riesigen Schwärmen ans Kaspische Meer, kann man daraus mit Sicherheit schließen, dass es weiter im Norden einen krachend kalten Winter geben muss. Im Winterquartier leben die Gänse nach einem streng geregelten Tagesablauf: vor Sonnenaufgang Abflug zum Weideplatz. Zuletzt startet der Hauptschwarm mit Tausenden von Vögeln. Wenn die Sonne untergeht, beginnt der Rückflug zum Übernachtungsplatz.« Lewadski weinte hemmungslos. »Du musst mir folgen«, sagte Lewadskis Mutter und zuckte mit den Schultern. »Ich gehe!«, sagte sie etwas lauter, hob ihre Augenbrauen und legte dabei die Stirn in unvorteilhafte Falten.
    »Warum machst du das?«
    »Weil es sein muss.«
    »Was muss sein? Dass du mich manipulierst, dass du meine Liebe zu dir ausnutzt und mein Studium über den Haufen wirfst? Schließlich hast du es bezahlt, Mutter!«
    »Das tut nichts zur Sache. Wenn es um das Leben meines Kindes geht, bin ich eisern. Du kommst mit, und wenn nicht, dann gehe ich und sterbe weit von dir auf unrühmliche Art. Und niemand wird meinen Leib der Erde anvertrauen.«
    »Das ist Erpressung, das ist Wahnsinn!« Lewadski stampfte mit dem Fuß auf.
    »Ja, so ist es«, sagte Lewadskis Mutter, »ich gehe jetzt.«

VI
    Lewadski ging mit seiner Mutter. Von einer fliegenverseuchten Bahnstation in Südrussland aus telegraphierte er an sein Institut nach Lemberg. BIN VERHINDERT STP MUTTER KRANK STP BITTE UM AUSZEIT STP
    Mitunter flackerte in ihm die sanfte Flamme der Hoffnung, seine Mutter würde umkehren, sobald sie nur die schneebedeckten Spitzen des Berges Kasbek erblickte und aus reinen Quellen tränke, er könnte sich weiter seinen Vögeln und dem Studium widmen und der Brief und alles Gerede über die nahende Sintflut wäre nur ein böser Traum gewesen. Lewadskis Mutter erblickte die Spitzen des Berges Kasbek, trank aus reinen Quellen und kehrte nicht um. Nicht im Traum dachte sie daran, den Bergen den Rücken zu kehren.
    Sie stiegen in Gasthöfen mit immer niedriger werdenden Decken ab, Flöhe tobten in ihren Betten, Schwalbennester hingen wie alte Buletten an den Hausbalken, zu denen der Wirt beim Betreten des Zimmers voller Stolz mit dem schmutzigen Finger deutete. Als Lewadski und Lewadskis Mutter immer häufiger den am Wegrand auf einen Stab gestützten Hirten mit ihren hohen Fellmützen

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