Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
Vom Netzwerk:
stellte sich vor, indem er die Überschriften einiger Zeitungsartikel vorlas, die ihm nach dem Waldrapp-Kongress zugeschickt worden waren. »Ziehvater im Leichtflugzeug: Nieder mit den Grenzen! Beispielloses Auswilderungsprojekt in der Geschichte. Mit gutem Beispiel voran, ukrainischer Ornithologe sprengt alle Grenzen ... Nun ja. Grenzen, Grenzen, Grenzen, Sie sehen, Madame, dauernd stößt der Mensch an Grenzen, innere oder äußere. Mal drückt der Schuh, mal drückt der Sarg, verstehen Sie, was ich meine?«
    Die Mitarbeiterin der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle schien am Hörer geräuschlos zu weinen, dann vernahm Lewadski eine steile Tonleiter würgender Geräusche und bat die junge Dame, ihn mit einem Mann zu verbinden. Als einemännliche Stimme sich am anderen Ende der Leitung meldete, stellte sich Lewadski erneut vor, indem er dieselben Überschriften vorlas. »Ziehvater im Leichtflugzeug: Nieder mit den Grenzen! Beispielloses Auswilderungsprojekt in der Geschichte. Mit gutem Beispiel voran, ukrainischer Ornithologe sprengt alle Grenzen.«
    »Ach, Professor Lewadski, natürlich, natürlich. Die junge Dame? Ach so. Eine Praktikantin. Ja. Ja. Genau. Überfordert ist das richtige Wort. Genau. Unser Bestes. Genau. Aber natürlich kennt man Sie noch. Aber sicher. Selbst ich junges Gemüse. Aufgewachsen mit Ihren geistreichen Artikeln im Jahresmagazin. Wie bitte? Persönlich gefallen? Über die humane Art des Spießens von Insekten und großen Beutetieren auf Dornen bei den Neuntötern zum Beispiel. Oder Wie die globale Erwärmung Fischbestände verändert und aus den Nordseevögeln Kannibalen macht . Wie bitte? Sie haben eine Bitte?«
    Es gehe um nichts weniger als um sein Lebensprojekt, sagte Lewadski, um sein letztes Forschungsprojekt gehe es, er brauche eine Einladung der Forschungsstelle für ein Eilvisum. Als Ukrainer käme man nicht so einfach über die Grenze, ob Mitglied der Akademie der Wissenschaften oder nicht.
    Die männliche Stimme erkundigte sich nach Lewadskis Passnummer und versprach, sich um alles zu kümmern.
    Nach dem fruchtbaren Gespräch wählte er die Nummer der Akademie der Wissenschaften und wurde, was ihm früher immer geschmeichelt hatte und nun außer Acht blieb, an seiner Stimme erkannt und mit dem Direktor verbunden. Lewadski schilderte sein Anliegen: Er müsse dringend nach Wien. Er sei 96 und nicht in der Lage, sich mit Papierkram aufzuhalten. Von der Akademie erwarte er, in der Botschaft anzurufen und dem Leiter der Visum-Abteilung Lewadski als Sonderfallans Herz zu legen. Darum bitte er inständig. Den Hinweis, es werden keine Ausnahmen gemacht, sofort mit der Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften attackieren und mit dem Dr. Dr. h.c.
    Lewadski bekam sein Visum innerhalb von zwei Wochen. Als er mit einem schmalen Lederkoffer zwischen den Beinen den Schlüssel im Schloss umdrehte, war es ihm, als riefe das Knurren in seinem Magen der Stille in seiner Wohnung etwas zu. »Ich kehre nie mehr wieder«, sagte er zum ovalen Porzellantäfelchen mit der Nummer 107 an seiner Tür. Mit schlechtem Gewissen stieg er in den Aufzug. Er verließ seine Wohnung wie eine Ehefrau, die er nie gehabt hatte. Er kehrte seiner Wohnung den Rücken, ihr, die ihn täglich empfing, wärmte, umarmte. Gut, kochen musste er selbst, aber immerhin war die Wohnung Tag und Nacht für ihn da und um ihn, in stummer selbstloser Liebe. Mein Gott, dachte Lewadski, was ist denn bloß aus mir geworden? Ein Verräter! Ein Egoist! Als er aus dem Aufzug trat, war dem Egoisten Lewadski sein Egoismus egal.
    Im Taxi betrachtete er durch die Lupe das Visum in seinem Pass. Es glitzerte noch großflächiger als jenes aus dem Jahr 2002. Die Sicherheitsmaßnahmen, dachte Lewadski, verschärfen sich.
    »Stau«, sagte der Taxifahrer. Lewadski freute sich, dass er nach alter Gewohnheit viel zu früh losgefahren war. Er freute sich über seinen Hut und den Trinkstock, der sich wie ein hagerer Windhund an Lewadskis dünnes Bein lehnte. Um nicht aus dem Taxifenster schauen zu müssen und unnötig melancholisch zu werden, öffnete Lewadski seine Brieftasche. Eine wunderschöne Kreditkarte strahlte ihn an wie eine orientalische Schönheit durch den Spalt ihres Schleiers. Was für einAufstand um so ein kleines Ding!, dachte Lewadski, nur gut, dass es trotzdem rasch gegangen war. Erst letzte Woche hatte Lewadski die Kreditkarte bei seiner Bank beantragt. Kurz nachdem der Kurier mit dem Pass und dem Visum gekommen war, durfte er sie

Weitere Kostenlose Bücher