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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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Höhe. Der Lispelnde fängt an zu lachen. »Sag doch«, fleht der Matrose.
    »Ich hoffe«, der Lispelnde wischt sich eine Lachträne nach der anderen aus den Augenwinkeln, »ich hoffe.«
    »Ehhe-hee!« Der Taubstumme ermuntert ihn, fortzufahren, und reibt sich energisch an der Kalkwand des Treppenhauses.
    »Ich hoffe, er verthteckt thich irgendwo in einem Taubenthlag und weith nicht, dath der Krieg thsu Ende ist.«
    Lewadski deutet mit dem Finger auf die Uhr, die er nicht trägt: Die Regale müssen noch aufgebaut werden. »Die Regale können warten!«, bellt der Matrose und schaut besorgt auf den Lispelnden, dessen Kopf wie ein Ballon aussieht, dem die Luft ausgegangen ist. »Wenn Sie erlauben«, fügt er etwas weicher hinzu. »Wir warten auf Ihre Geschichte.«
    »Ja, ich bin kein Veteran.«
    »Tho, tho«, wacht der Lispelnde auf.
    »Ehhe-he!«, wiehert der Taubstumme.
    »Ich war nicht an der Front, sondern in der Verbannung. In Zentralasien.«
    »Aber warten Sie mal«, unterbricht der Matrose, »wie kamen Sie dann zu einer Veteranenwohnung in dieser Straße?«
    »Glück«, lächelt Lewadski, »pures Glück.«
    »Wir thind quitt«, resümiert der Lispelnde, seine Schiebermütze zurechtrückend.
    »Ehhe-he«, meldet sich der Taubstumme von der Kalkwand.
    »Mit dem ist alles klar«, sagt der Matrose und wirft seinen Zigarettenstummel in Lewadskis Blecheimer, »untaublich, eh, untauglich, weil taub.«
    Wie lang ist es her!, denkt Lewadski, das Badewasser wird langsam kalt, und der Schaum ist verschwunden. Nichts verbirgt meine Blöße. In der Tat wehen seine Beine wie zwei weiße Bänder kapitulierend auf dem Badewannengrund. Wie lang ist es her. Mein schöner Plattenspieler, meine noch zu sammelnde Bibliothek. Und die Nachbarin, wenn sie wirklich im Krimkrieg geboren wurde, dann war sie imJahr, als ich die Wohnung bezogen habe, sage und schreibe hundert Jahre alt. Es war Frühling. Oder Spätherbst. Nein, es war Frühling! Lewadski scheucht mit dem Arm einige verbliebene Schaumfetzen ans andere Ufer. Es war März, eine hoffnungsvolle Jahreszeit, in der so viele Frauen Tränen vergießen mussten, auch die Greisin. Verweint kam sie einmal die Treppe hoch. Verweint und zerzaust. »Der große Führer ist gestorben!«, schluchzte sie im Treppenhaus. Hätte ich damals nicht meine Tür geöffnet und das zu einem strahlenden Lachen verzogene Gesicht der Greisin gesehen, ich hätte den Satz für eine herzzerreißende Klage gehalten. »Die Weiber weinen auf der Straße und raufen sich ihre Haare: Was soll aus uns werden, was soll aus uns werden! Fraß für die Pferde!«
    Hätte ich damals gewusst, dass er es war, denkt Lewadski, warmes Wasser nachlaufen lassend, so hätte ich mich über die Nachricht gefreut. Dass er es war, der uns beide und ganz Tschetschenien in Viehwaggons hat packen lassen, Lewadski hebt den dürren Zeigefinger, dass er es war, für den ich mir am Rand der Welt wie ein Maulesel den Buckel krumm machte, Lewadski rückt sich in der Badewanne zurecht, in einer dazu ungeeigneten Landschaft, ein Hohn! Hätte ich damals gewusst, dass er es war, so hätte ich die Hexe im Türrahmen umarmt und zusammen mit ihr Tränen der Freude vergossen. Wenn sie wirklich hundert war, dann war sie ein paar Jahre älter als ich jetzt.
    »Möchten Sie Ihr Gebiss haben?«, flüstert Habib durch den Türspalt. Im Hintergrund knospt der zweite Satz der Neunten, Bienen mit Körpern aus Blech, mit Höschen voller Pollen aus feinem Eisenmehl zerschellen an den Knospen, die zu Blüten eines Geigendornenstrauches werden.
    »Danke, ich bade ohne Gebiss.«
    Habib zieht sich zurück. Lewadski schläft ein. Er schläft ein und wacht als Leierkastenmann auf. Es ist Winter. Große Schneeflocken schweben um die Laternen, um kahle Zweige, eine Schneeflocke eilt dem Hintern einer Matrone hinterher. Ein Summen steht in der Luft. Seinen Hut vor sich auf dem Boden beginnt Lewadski, seine Leier zu drehen. Ein paar Schneeflocken schweben um das Nichts in seinem Hut. Lewadski dreht munter weiter – der Tag hat erst begonnen. Bald wirft man ihm etwas Kleingeld in den Hut. Er kurbelt weiter, bedankt sich mit einem Nicken für die Münzen, die ihm fremde Menschen zuwerfen. Auch die Dame mit dem Riesenhintern ist ein netter Anblick, ihr Schönheitsfleck wird durch den Vogelkopf kompensiert. Ein Sittich. Wie nett, freut sich Lewadski, und wie praktisch: Arme zum Greifen, Schnabel zum Beißen. Ein Bienenfresserpaar läuft an ihm vorbei, bunt wie alle

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