Wer ist Martha? (German Edition)
Bruchteil einer Sekunde später als verzerrtes Echo auf Lewadskis Schmerzgeheul.
»Das ist ja ein Skandal, die beiden Jugendlichen in der Loge!« Lewadski spürt die vor Wut glühenden Blicke der Konzertbesucher in der Dunkelheit des Saals.
»Was haben Sie den Leuten zugerufen?«, flüstert Herr Witzturn.
»Nichts«, flüstert Lewadski zurück, »ich habe mir nur sehr unglücklich den Kopf angeschlagen und dabei einen Laut von mir gegeben.«
»Hhm. Wenn es ein Laut aus dem Mund war, so sehe ich nichts Kriminelles darin. Es sei denn ...«
»Wenn Sie damit sagen wollen, ich hätte ge...«
»Auch das wäre zu verzeihen.«
»Wenn Sie jetzt wirklich behaupten, ich würde im Konzert, eeh ...«
»Schmeißt sie doch raus!«, empört sich die Stimme einer Raucherin, die man leicht für eine brechende Knabenstimme halten könnte. Herr Witzturn richtet sich im Sessel auf und konzentriert sich mit abwesendem Blick auf den dritten Satz, der gerade als romantisches Parlando von zwei Oboeninstrumenten einsetzt. Mittendrin taumelt der verliebte Genius, traurig, einsam, von Gott verlassen. Oder doch nicht von Gott verlassen? Zumindest nicht ganz? Von Gott und der Welt verlassen, aber nicht von der Hoffnung, die plötzlich als aparter Violinenluftzug über die Bühne weht. Einer und noch einer.
Auf der Bühne entdeckt Lewadski die kugelrunde Gestalt eines Geigers und schaut jetzt doch behutsam durch das Opernglas. Wo er eben noch war, sitzt jetzt eine Harfenistin, deren Anmut, wie Lewadski meint, nicht einmal ihr klobiges Instrument etwas anhaben kann. Das eingesperrte Vögelchen schaut durch das besaitete Fenster ihres Verlieses direkt in Lewadskis Opernglas. So sind mir die Frauen genehm, denkt Lewadski, zahm und süß im Käfig, in Lohn und Brot. Ein Augenschmaus neben dieser Leberwurst an der Violine. Und die Klarinette wackelt weit über das Maß des Notwendigen hinaus mit dem Kopf. Weiblicher Ehrgeiz, der Fluch der Menschheit, steckt leider auch in vielen Männern. Der Dirigent scheint gottlob unberührt davon zu sein. Oder er hat im Eifer des Gefechts seine Allüren vergessen, was wahrscheinlicher ist. Schließlich ist der vierte Satz eine hochkomplexe Hinrichtungsszene ...
Feierlich düstere Marschklänge erfüllen die Luft des Konzertsaals. Der Liebestolle erwürgt seine Geliebte und wird zum Richtplatz geführt. Gleich gibt es ein Blutbad. Lewadski schielt zu Herrn Witzturn hinüber und stellt mit Entsetzen fest, dass dessen Unterlippe sich wieder zu verselbstständigen beginnt.
»Ich liebe ältere Dirigenten«, flüstert Lewadski Herrn Witzturn ins Ohr, »weil sie zum Überschäumen zu abgebrüht sind und die Koketterie der Jugend hinter sich gelassen haben. So kommt das Herz der Musik zum Schlagen, die Idee zum Knospen, das Wesen zur Sache.« Herr Witzturn schweigt zustimmend.
Ach, er ist wieder eingeschlafen! Um das Offensichtliche zu bestätigen, rutscht Herrn Witzturns Kopf schelmisch zur Seite, und seine Lippen beginnen an einem unsichtbaren Bündel Heu zu zupfen. Eine Schande, denkt Lewadski, wenn er jetztden letzten Teil mit dem höllischen Dies Irae verpasst. »Herr Witzturn! Herr Witzturn!«
Herr Witzturn will nichts hören. Sein Kopf rollt in einer der Musik nicht unähnlichen Sphäre. Einen Wolkenhügel nach dem anderen erklimmt er mühelos, graziös, spielend. Als Zeichen seiner Verachtung für alles Irdische gibt er ein erst leises, dann zu einem Donnergrollen anwachsendes Schnarchen von sich, das sich ins Läuten der Totenglocken im Goldenen Saal des Musikvereins mischt. Immer leiser läuten die Glocken dem hingerichteten Liebesnarren. Immer lauter wird das Schnarchen von Herrn Witzturn. »Rapüh ...«, wiederholt er mit Nachdruck. »Razüühhh ...«
Und wieder fressen sich glühende Blicke durch die schützende Kruste der Dunkelheit in Richtung Lewadskis Parterre-Loge. Nackt fühlt sich Lewadski, den bösesten Gedanken von Fremden preisgegeben. Doch auf einmal stört es ihn nicht mehr, denn neben ihm schläft ein Mensch, der noch schutzloser ist als er, einer, den Lewadski ins Konzert eingeladen und für den er Eintritt bezahlt hat. Es ist unser gutes Recht zu schnarchen, denkt Lewadski und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein Ritter, ein Knecht, ein Vasall.
Zeige deine Gewalt, Schicksal! Wir sind nicht Herr über uns selbst!
Wo hat er das gelesen? In einer Monographie? Mögen diese Pharisäer doch ihre giftigen Blicke schleudern. Zwei Greise in der Geborgenheit ihrer teuren Loge erwecken
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