Wer ist Martha? (German Edition)
peinlich ist es auch wieder nicht, denkt Lewadski. Ich hoffe, er hört mit dem Niesen auf, damit wir den Abend bei einem netten Gespräch ausklingen lassen können.
»Cheerio«, brummt Herr Witzturn in sein Glas.
»Prösterchen«, sagt Lewadski zärtlich und nimmt einen gehörigen Schluck, der ihm wohltuend kühl die Kehle hinunterfließt.
»Wissen Sie, warum es hier so stark nach Alkohol riecht?« Herr Witzturn wartet mit einem schelmisch zugedrückten Auge auf Lewadskis Antwort. »Sie glauben, es liegt an all den Flaschen, die im Barregal stehen?«
»Ich weiß nicht, vielleicht ist eine Flasche zerbrochen. Verdunstungen?«
»Es liegt, lieber Herr Lewadski, tatsächlich an den Verdunstungen, allerdings aus all den Flaschen, die an den Tischen sitzen«, flüstert Herr Witzturn und prustet los.
Dabei riecht er selbst nach Schnaps, denkt Lewadski und hebt sein Glas. »Ich trinke auf ...« Lewadski denkt nach, er will etwas Poetisches sagen, etwas Knappes und Erbauliches. »Ich trinke auf die Güte des Menschen!«
»Bravo!«, krächzt eine heisere Damenstimme von einem der Tische in der Nähe des Klaviers. Sicherheitshalber deutet der Klavierspieler eine Verbeugung an, auch wenn er weiß, dass seine Kunst nicht gemeint war. Aus Rache beginnt er, ein dramatisches Lied zu hämmern.
»Sie sind ein Poet«, seufzt Herr Witzturn, trinkt noch einenSchluck und reibt sich durch das Hemd kreisförmig die Brust. »Bahh, Wodka ist gut für die Gefäße ...« In den Augen von Herrn Witzturn verschmelzen die Cognac-, Whisky- und Wodkaflaschen des Barregals zu Lava. In den Flaschenbäuchen flackern Kerzen und dreht sich ein Reigen von Lewadskis Glatzen.
Lewadski lehnt sich langsam zurück und wundert sich, wo die Lehne bleibt. »Ein Barhocker hat keine Lehne«, verrät die gebückte Gestalt von Herrn Witzturn neben ihm. Lewadski bricht sein Vorhaben mit runden Augen ab. »Ich lade Sie auf einen zweiten Wodka ein«, verkündet Herr Witzturn in Richtung des Barmanns.
»Zweimal Früchte-Wodka für die Herren«, sagt der Barmann zu sich selbst und verschwindet in der dunklen Kammer nebenan.
»Auf Ihr Wohl!« Herr Witzturn wartet mit erhobenem Glas auf Lewadski.
»Auf Sie, Herr Witzturn.« Lewadski trinkt hastig sein altes Glas aus und greift zum randvollen neuen.
»Es ist ganz gleich«, wendet sich Lewadski an Herrn Witzturn, »in welcher Form uns die Schönheit begegnet.« Langsam dreht Herr Witzturn den Kopf. Sein Blick ist matt, müde, als flehe er um Gnade, so schaut Herr Witzturn durch Lewadski hindurch. »Gleichgültig sind auch der Augenblick und der Zusammenhang, in dem wir die Schönheit erfahren«, setzt Lewadski fort. »Die Wiederholbarkeit und die Willkür der Schönheit sollten uns nicht verwirren. Denn sie ist ... sie ist«, wiederholt Lewadski etwas leiser.
»Sie ist was?«, fragt Herr Witzturn, nachdem er einige Male geblinzelt hat. Lewadski weiß es nicht. Er fürchtet plötzlich, sich jetzt in Sphären zu bewegen, die anzusprechen und anzurufen eine undankbare Sache ist.
»Vielleicht ist die Schönheit nur die Gewissheit, dass man die Erinnerung nicht nötig hat, um ihrer gewiss zu sein«, antwortet Lewadski kaum hörbar und verfällt, was Herrn Witzturn nicht ganz unrecht zu sein scheint, in Schweigen.
»Wir schweigen gut«, sagt Lewadski zu Herrn Witzturn einen Augenblick später. »Doch es gibt einen von uns, der tiefer schweigt als der andere. So wie es in einem Gespräch immer einen gibt, der mehr redet. Beim Sprechen wird erzählt und zugehört, und beim Schweigen?«
Lewadski betrachtet die Hand von Herrn Witzturn, die sich in der Silberschale gedankenverloren von einer Nuss beißen lässt.
»Beim Schweigen gibt es schweigen und verschweigen«, antwortet Herr Witzturn.
»Was verschweigen Sie mir?«
»Wie bitte?«
»Ich meine, wollten Sie mir etwas sagen?«
»Als Sie im Konzert begonnen haben, sich so euphorisch auf dem Boden der Loge zu wälzen, erinnerte ich mich an einen Menschen, an den ich seit Ewigkeiten mehr nicht gedacht hatte«, erzählt Herr Witzturn und schaut zur Decke. »Tja, im Konzert kam mir mein Klavierlehrer in den Sinn. Er muss schon seit über achtzig Jahren tot sein. Damals war er schon ein Greis. Doch munter wie ein Gürkchen. Einmal kam ich zum Unterricht und begann, ein Klavierstück zu spielen. Ich spielte krumm und angespannt, ich rechnete jeden Augenblick mit einer Schimpftirade. Doch es kam anders. Mein Klavierlehrer kippte einfach von seinem Sessel und war mit einem
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