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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjana Gaponenko
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Taschentuch aus seiner Hose. Eine Familie Wollmäuse hat die Dunkelheit der Hosentasche genutzt, um sich schamlos zu vermehren. Zart sind ihre Wollkörper.
    »Ach, Herr Witzturn, sagen Sie nicht so was, Sie leben ja. Immer noch.«
    »Nur eine Erinnerung«, Herr Witzturn schüttelt den Kopf, »eine einzige Erinnerung, die wie durch ein Wunder aufersteht, reicht aus, um alle Fragen zu beantworten, alle Geheimnisse zu lüften, die einen gequält haben, verstehen Sie?«
    Lewadski legt die Hand auf das kühle Glas von Herrn Witzturns Armbanduhr.
    »Eine einzige Erinnerung scheint zu genügen, um den Lebenskreis zu schließen«, sagt Herr Witzturn und zieht seine Hand vorsichtig zurück. Aus seiner Anzughose holt er ein kariertes Taschentuch mit einem großen Tintenfleck. Lewadski kämpft sekundenlang mit sich selbst und beschließt, HerrnWitzturn lieber nicht mit dem Tintenfleck zu konfrontieren, um ihn nicht aus der Fassung zu bringen.
    »Heute Abend hat mein Leben einen vollkommenen Bogen beschrieben«, sagt Herr Witzturn und tupft sich je eine Veilchenträne aus dem rechten und aus dem linken Auge. »Ich bin, wenn Sie so wollen, erlöst.«
    »Darauf trinken wir!«, sagt Lewadski und putzt sich energisch die Nase, in der sich nichts befindet, was der Rede wert wäre.
    »Sie Glücklicher!« Herr Witzturn lächelt. Mit seinen aquarellfarbenen Augen sieht er aus, als wäre er mit einem Kartoffelstampfer geschlagen worden. »Ich wünschte, ich könnte meine Nase putzen so wie Sie.« Herr Witzturn klopft dreimal gegen seine Plastiknase.
    »Klopf auf Holz«, scherzt Lewadski.
    »Nun ja«, setzt Herr Witzturn fort, »mein Klavierlehrer war ein sonderlicher alter Herr. Würde er hier an der Theke sitzen, hier zwischen uns beiden«, Herr Witzturn fährt mit der Hand über den imposanten Skolioserücken des Abwesenden, »wäre er hier, so könnte man ihn leicht für unseren Sohn halten. Ich meine für einen unserer Söhne«, verbessert sich Herr Witzturn.
    »Sie meinen für den Sohn von einem von uns beiden«, korrigiert Lewadski sanftmütig. »Für unseren gemeinsamen Sohn«, betont Herr Witzturn, »wo wir schon über ihn sprechen. Was spielen denn die leiblichen Eltern für eine Rolle?«
    »Meinetwegen.« Lewadski presst eine Hand gegen die Brust, mit der anderen macht er eine abwehrende Geste.
    »Irgendwann«, flüstert Herr Witzturn, »ist man so frei, so hoch, so ...«, er tastet mit seinen Tuscheaugen über die Decke, »so, wie soll ich es sagen, hhmm. Wo war ich stehengeblieben?«
    »Ihr Klavierlehrer«, kommt ihm Lewadski zu Hilfe.
    »Ja, mein Klavierlehrer hatte zuweilen die Angewohnheit, schon nach wenigen Takten zu sagen, welches Stück er gerade hörte. Wie oft gingen wir gemeinsam ins Konzert. Ich eine blühende Pickelwiese; mein Meister ein eleganter Teufel. Mit nichts war er in Verlegenheit zu bringen. Auch nicht mit den entlegensten Kompositionen. Er kannte sie alle. Als hätte er sie selbst geschrieben.« Herr Witzturn schnaubt und wischt sich mit dem Tintentuch über die Stirn. »So unglaublich wie sein tonales Gedächtnis und seine Kenntnis der Kompositionen war sein Gehör. Noch im heftigsten orchestralen Getöse hörte er jedes Instrument wie isoliert heraus. Gab ich mich selig der Musik hin, sagte er, schön, ja, aber die Klarinette hat gis statt f gespielt.«
    »Unglaublich«, staunt Lewadski und rutscht einige Male auf dem Barhocker hin und her.
    »Das Beste war«, Herr Witzturn klatscht mit der Handfläche auf den Tresen, »ha-ha-ha! Das Beste ... ho-ho-ho«, Herr Witzturn wiegt sich auf seinem Sitz, »war sein Fernglas. Eigentlich war es ein schweres viktorianisches Fernrohr, das mein Klavierlehrer mit ins Konzert zu nehmen pflegte. Vielleicht spielt jetzt meine Phantasie verrückt, aber ich könnte schwören, es war ein Fernrohr.«
    »Wie exzentrisch!« Lewadski wird es warm ums Herz. »Ein Fernrohr!«
    »Oder ein Hörrohr, hm, eins von beiden.« Herr Witzturn lässt seine Augenbraue nach oben schnellen. »Natürlich war es ein Fernrohr! Wir saßen meistens ganz vorne auf falschen Plätzen. Das spielte für meinen Klavierlehrer keine Rolle. Kam jemand, der die richtige Karte hatte, wurde er fortgeschickt mit den Worten, suchen Sie sich einen anderen Platz, Sie verstehen sowieso nichts von Musik.«
    »Köstlich!« Lewadski klopft sich auf die Schenkel. Sicherheitshalber steige ich vom Barhocker, falls es noch lustiger wird, denkt er und stellt die Füße auf den Boden.
    »Und dann«, Herr Witzturn

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