Wer Ja sagt, muss sich wirklich trauen
Wagen ging, ließ sie zum Schutz vor dem kalten Nieselregen ihren Schirm aufploppen und dachte an den Text, den sie an diesem Abend noch schreiben musste, bevor sie ins Bett fallen konnte. Kein Abklappern der Kongresshallen mehr, kein Anklopfen mehr an Unternehmertüren, um bei hohen Tieren vorzusprechen, die sie nur empfingen, damit sie hinterher damit angeben konnten, dass sie Präsidentin Joriks Tochter kannten. Ein Buch in ihre öffentliche Plattform zu verwandeln war weitaus zufriedenstellender.
Lucy wich einer Pfütze aus. Ein Flutlicht beleuchtete ihren Wagen, eins von nur zwei Fahrzeugen, die noch auf dem Parkplatz standen. Sie hatte ihr Buch-Exposé fast fertig, und ein halbes Dutzend Verlagshäuser hatten bereits angefragt. In Anbetracht dessen, wie viele Autoren sich abstrampelten, um veröffentlicht zu werden, hätte Lucy vielleicht ein schlechtes Gewissen haben müssen, aber das hatte sie nicht. Die Verleger wussten, dass ihr Name auf dem Cover eine große Presse und hohe Verkaufszahlen garantierte.
Sie hatte beschlossen, die persönlichen Geschichten der obdachlosen Jugendlichen aus deren eigenen Perspektiven zu erzählen – warum sie von zu Hause ausgerissen waren, wie sie lebten, ihre Hoffnungen und Träume. Nicht nur benachteiligte Teenager wie Shauna, sondern auch die weniger publizierten Vorstadtkids, die in wohlhabenden Gemeinden ein Nomadendasein führten.
Solange Lucy sich ausschließlich auf ihre Arbeit konzentrierte, war sie voller Energie, aber sobald sie unaufmerksam wurde, kehrte ihr Zorn zurück. Sie weigerte sich, ihn gehen zu lassen. Wenn sie hundemüde war, wenn ihr Magen sich weigerte, Nahrung aufzunehmen, die er brauchte, wenn ihr grundlos Tränen in die Augen schossen … Der Zorn war das, was sie durchhalten ließ.
Sie war fast an ihrem Wagen angelangt, als sie jemanden auf sich zurennen hörte. Sie fuhr herum.
Der Junge kam aus dem Nichts. Drahtig, hohläugig, in schmutzigen, zerrissenen Jeans und einem regengetränkten dunklen Kapuzenpullover. Er entriss Lucy die Handtasche und stieß sie zu Boden.
Ihr Regenschirm flog davon, Schmerz durchzuckte ihren Körper, und die ganze Wut, die sie in sich bewahrt hatte, fand ein Ventil. Sie brüllte etwas Unverständliches, stemmte sich von dem nassen Asphalt hoch und nahm die Verfolgung auf.
Der Junge erreichte den Bürgersteig, rannte unter einer Straßenlaterne vorbei und warf einen Blick zurück. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn verfolgte, und er legte einen Zahn zu.
» Lass sie fallen! « , brüllte Lucy in ihrem adrenalingeladenen Wutrausch.
Aber er rannte weiter, und sie tat es auch.
Er war klein und schnell. Das war Lucy egal. Sie dürstete nach Rache. Sie hastete über den Gehweg und sah, dass er in die Gasse zwischen der Anlaufstelle und einem Bürogebäude bog. Lucy blieb ihm dicht auf den Fersen. Ein Holzzaun und ein Müllcontainer blockierten den Ausgang, aber sie dachte nicht darüber nach, was sie tun würde, wenn er eine Waffe hatte.
» Gib sie sofort her! « , schrie sie.
Mit einem hörbaren Ächzen zog er sich auf den Müllcontainer. Ihre Handtasche verhakte sich an einer Kante. Er ließ sie fallen und sprang über den Zaun.
Lucy war derart aufgebracht, dass sie versuchte, ihm hinterherzuklettern, doch sie rutschte mit ihren Stiefeln an dem nassen Metall ab und schürfte sich das Bein auf.
Allmählich kehrte ihr gesunder Menschenverstand zurück. Lucy schnappte nach Luft, langsam verrauchte ihre Wut.
Dumm. Dumm. Dumm.
Sie nahm ihre Handtasche und humpelte zurück zur Straße. Ihr Lederrock hatte ein wenig Schutz geboten bei ihrem Sturz, aber ihre Strumpfhose war zerrissen, ihr Bein aufgeschrammt, Knie und Hände aufgeschürft, aber es schien nichts gebrochen zu sein.
Sie erreichte den Gehweg. Hätte Panda sie in diese Gasse laufen sehen, wäre er ausgerastet. Doch wenn Panda in der Nähe gewesen wäre, hätte der Junge ihr nie so nahe kommen können.
Weil Panda Menschen beschützte.
Ein schreckliches Schwindelgefühl überkam sie.
Panda beschützte Menschen.
Sie schaffte es gerade noch bis zum Bordstein, bevor sie kollabierte. Ihr Magen hob sich, als ihr die Worte in den Sinn kamen, die er gesagt hatte.
… hat er sie aus heiterem Himmel gegen die Wand geschleudert. Er hat ihr das Schlüsselbein gebrochen. Bist du scharf auf so etwas?
Sie barg ihr Gesicht in den Händen.
Ich liebe dich nicht, Lucy … Ich liebe dich nicht.
Eine Lüge. Es war nicht so, dass er sie nicht liebte. Vielmehr
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