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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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unfehlbarer Sicherheit, was in ihr vorging. »Denke nur daran, was du jetzt sehen wirst. Es hat einen Grund.«
    Einen Grund! Das Unbehagen erfaßte sie von neuem, und sie bekam Herzklopfen … Sie hatte sich also nicht getäuscht. Es machte ihr Angst, daß sie den Grund seiner Spannung nicht erriet. Ihr Sehnen, daß er sie an seine Brust drückte, drohte sie zu überwältigen. Aber sie wehrte sich gegen diesen Sturm des Verlangens, denn trotz seiner Nähe war er in den Tiefen seines unergründlichen Wesens und sie wagte nicht, ihn zu stören. Doch Olivia wußte, daß er alles empfand, was sie empfand, daß ihr Atem im selben Rhythmus ging und er ihr Verlangen spürte, und bewußt nicht darauf reagierte.
    »Sieh genau hin«, sagte er jetzt leise.
    Wie ein Hündchen folgte sie seinem Befehl und richtete die Augen auf das Schauspiel am Ufer. Hunderte, vielleicht Tausende drängten sich dort. Das Boot glitt näher, und Olivia konnte im Licht der Fackeln die Gesichter der Menschen erkennen. Das rhythmische Schlagen von Trommeln hallte über das Wasser. Ihre einfachen Kadenzen schienen subtile, unheilvolle Botschaften zu enthalten, die nur Eingeweihte zu verstehen vermochten. Gesänge und Klagen stiegen zum Nachthimmel empor, körperlose Stimmen hoben und senkten sich zum Taktstock der Windböen wie die Wellen des Wassers. Das Beiboot trieb langsam auf die wogenden Menschenleiber am Ufer zu.
    Olivias Herzschlag übernahm den schneller werdenden Rhythmus der Trommeln. Sie beobachtete das Schauspiel in elektrisiertem Schweigen. Sie konnte die Statuen der Göttin, die zur Versenkung und Vernichtung vorbereitet wurden, jetzt deutlicher erkennen. Männer trugen sie auf ihren Schultern. Sie waren nackt und schwarz. Nur das Weiß ihrer Dhotis und Lendentücher hob sich leuchtend ab. Ein ganzes Heer unwirklicher Gestalten war mit diesem für die Gemeinschaft lebenswichtigen Ritual beschäftigt. Die Bildnisse auf ihren Podesten wurden liebevoll auf den Rand von zwei Booten gesetzt, die nebeneinander lagen. Die Männer standen bis zur Hüfte im Wasser und schoben sie in den Strom hinaus. Dort löste eine Gestalt am Bug die Boote vorsichtig mit einer langen Stange voneinander. Wenn sie auseinandertrieben, schaukelten und schwankten die Statuen einen Augenblick und fielen mit lautem Klatschen ins Wasser. Und jedesmal, wenn das geschah, stieg aus der Menge ein gedämpfter Triumphschrei auf, der sofort wieder erstarb. Die Männer im Wasser kehrten zum Ufer zurück.
    Keiner von ihnen blieb stehen oder drehte sich noch einmal um.
    Olivia und Jai saßen stumm im Boot und beobachteten das letzte Ritual von Dassera. Die Ruderer bewegten sich nicht, sondern flüsterten lautlos Mantras. Olivia drehte langsam den Kopf zu Jai und stellte fest, daß er sie aufmerksam ansah. In den Tiefen seiner perlgrauen Augen stand eine Frage – und diese Frage schien für ihn so lebenswichtig zu sein, daß sie erschrak. Jai Raventhorne erwartete von ihr, daß sie etwas Bedeutsames, Außergewöhnliches sagte.
    Was?
    Olivia schluckte, und ihre trockene Kehle schmerzte. »Ich habe in Kumartule gesehen, wie diese Statuen mit großer Sorgfalt und Hingabe gemacht werden.« Erwartete er von ihr Zustimmung und Anerkennung? »In den zehn Tagen des Festes werden diese Bildnisse auf Altäre gestellt und verehrt.«
    »Weiter!« flüsterte er.
    Olivia fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen und sah ihn fragend an. Aber hinter seinem maskenhaften Gesicht lag nur eine andere Maske – und dahinter Dunkelheit. »Wenn sie die Statuen jetzt versenken, geschieht das selbstverständlich und fast gleichgültig, als würden sie ihnen nichts mehr bedeuten. Keiner der Männer dreht sich noch einmal nach ihnen um.«
    »Ja!«
    Er stieß einen seltsamen Laut aus, der klagend, aber auch triumphierend klang, als sei er hin und her gerissen zwischen Qual und Erleichterung. Sein Körper, den er die ganze Zeit beinahe starr aufrecht gehalten hatte, sank in sich zusammen, als sei ein unerträglicher Druck von ihm genommen. Er bewegte sich und plötzlich fiel das Mondlicht auf sein Gesicht. Olivia wollte einen Schrei ausstoßen, aber er blieb ihr in der Kehle stecken. Seine Haut war plötzlich alt und fahl wie Pergament und spannte sich über seine Wangenknochen. Beim Anblick seiner Augen erfaßte Olivia Grauen, denn sie lagen erloschen in den Höhlen eines Totenkopfs. Sie starrte entsetzt auf die gespenstische Erscheinung. Vor ihr saß ein Fremder, den sie noch nie gesehen

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