Wer Liebe verspricht
hatte.
Er bewegte sich wieder, und der Eindruck war verschwunden. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht, als er sagte: »Das ist die Lektion der Versenkung. Wir sollen lieben und dabei unberührt bleiben. Wir sollen uns wenn notwendig lösen und keinen Blick des Bedauerns zurück werfen.«
Olivia begann zu zittern. »Wie kann das sein?« flüsterte sie.
»Es kann sein, es muß sein. Aber daß es kein Bedauern gibt, bedeutet nicht, daß es auch keinen Schmerz gibt.« Es klang sanft, als er sagte: »Sieh hin.«
Gehorsam drehte sie den Kopf und blickte wieder zum Ufer. Alle, die ihre Statuen versenkt hatten, verließen den Fluß, und der Strand wurde allmählich menschenleer. Die wenigen, die noch blieben, schienen großen Kummer zu empfinden. Tränen rannen über ihre dunkle Wangen, und in ihren Augen sah man den Schmerz über den erlittenen Verlust. Manche weinten leise und verbargen das Gesicht in den Händen oder an der Schulter eines Begleiters. Andere schluchzten offen, und ihre Körper zuckten vor innerer Qual. Das schwarze Wasser des Hooghly glich einem Schlachtfeld. Arme, Beine, bunte und lächelnde Gesichter trieben auf dem Weg zum Meer und zur Ewigkeit an ihrem Boot vorbei. Unter dem Treibgut befanden sich schöne Stoffe, vergoldete Kronen, Armringe, Glaskugeln, Halsbänder, und im starren schwarzen Haar der enthaupteten Köpfe hingen noch immer bunte Blumen.
Asche zu Asche, Staub zu Staub …
Olivia wußte, daß sich etwas Schreckliches ereignen würde. Ihr Magen verkrampfte sich, ihre Schultern, die so zart von seinem Pashmina -Tuch gewärmt wurden, krümmten sich. Tränen standen in ihren Augen, als sie im Bewußtsein der bevorstehenden Katastrophe tonlos fragte: »Betrachtest du dich als Hindu?« Sie wußte, Fragen halfen nicht mehr, aber sie wollte nicht verzweifeln.
»Vermutlich ebenso sehr als Hindu wie als alles andere.«
»Und du bist auch in der Lage zu dieser Art Trennung ohne Blick zurück?«
»Ja«, antwortete er ohne Zögern.
»Ohne Bedauern?«
»Ja.«
»Ohne … Schmerzen?«
Diesmal zögerte er eine Sekunde. »Nein.«
Olivia konnte keinen Gedanken mehr fassen. Mit jedem Wort schleuderte er sie weiter und weiter in einen eisigen luftleeren Raum, in dem sie allein war. Das Schweigen zwischen ihnen war lautlos wie das Weltall, denn ihre unvereinbaren Welten trennten sie. Sie trieben auseinander, Abgründe taten sich unter ihnen auf, und es gab nicht einmal mehr den Trost eines zufälligen Blicks. Er starrte durch sie hindurch ins Leere. Wie betäubt von der Ungeheuerlichkeit seiner Worte saß Olivia vor ihm. Die glänzende Mondscheibe verschwand hinter den sich wiegenden Wipfeln der Palmen am Horizont und begann ihren Weg zu anderen Welten. Das Beiboot fuhr bereits wieder zurück zur Anlegestelle, und das Ufer entschwand langsam hinter ihnen und mit ihm die Fackeln, die Menschen und die Gesänge. Die Huldigung der Göttin Durga war für ein Jahr vollbracht, und die Gläubigen kehrten nach Hause zurück. Olivia bemerkte nicht, daß auch sie weinte.
An der Anlegestelle wartete Bahadur mit der Kutsche. Die Straßen waren einsam und leer. Die meisten überließen sich schon ihren glücklichen Träumen. Sie wußten nicht oder wollten nicht wissen, daß für andere die Totenglocke läutete, der Ruf des Schmerzes ertönte. Diese Nacht schenkte vielen einen geruhsamen Schlaf und anderen den Fluch der ewigen Schlaflosigkeit. Sie verließen das Boot. Raventhorne half ihr mit versteinertem Gesicht in die Kutsche. Er hielt ihr die Tür auf. Dabei streiften seine Finger flüchtig die ihren, ohne zu verweilen.
»Ich kann dich nicht wiedersehen, Olivia.«
Das hatte er ihr die ganze Nacht über gesagt. Schon lange, bevor er die Worte aussprach, hallten sie in ihrem Kopf wie ein Echo, das ausweglos zwischen Felswänden gefangen ist. Jetzt wußte sie, daß er ihr diese Worte bei jeder Begegnung gesagt hatte.
Warum?
Aber sie brachte keinen Laut hervor. Das Wort blieb ein Echo in ihrem Kopf wie das Todesurteil, das er gesprochen hatte. Dann saß sie in der Kutsche, die ohne ihn in die Nacht rollte. Sie drehte sich um, denn für sie galten die Regeln der Entsagung nicht, aber er war nur noch ein winziger Punkt, den die Dunkelheit auslöschte. Dann sah Olivia nichts mehr.
»Anhalten …!«
Die donnernden Hufe schluckten Olivias Schrei, als sie aus ihrer Starre erwachte. Verzweiflung erfaßte sie. Sie begriff die Endgültigkeit seines grausamen, ungerechten Urteils noch nicht. Sie wollte sich
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