Wer Liebe verspricht
sie in den Klauen gehabt hatte, mußte sie wenigstens nicht denken.
Da ihre Genesung sichtlich Fortschritte machte, beschloß Lady Bridget eines Nachmittags, zu einer Möbelauktion zu gehen. »Es ist bei den Apcars, mein Kind, bei den Armeniern, die jede Woche die Pferderennen veranstalten. Sie gehen nach London und haben ein paar gute Sättel. Josh möchte, daß ich sie mir ansehe. Außerdem weiß ich, daß sie auch hübsche Chippendale-Stühle und beinahe brandneue englische Vorhänge versteigern. Mit Estelles Zimmer muß wirklich etwas geschehen. Es sieht erbärmlich aus.«
Estelle! Blitzartig erinnerte sich Olivia und bekam Gewissensbisse. »Wo ist Estelle, Tante Bridget? Ich habe sie in den letzten zwei Tagen nicht gesehen.« Wie konnte sie ihre Cousine so völlig vergessen haben!
»Sie ist eine Woche bei den Pringles in Cossipore. Erinnerst du dich an den netten Marineleutnant, den wir bei den Pennyworthys getroffen haben? Seine Schwester Anne ist mit ihren beiden Kindern aus Lucknow gekommen. Estelle hat sich mit ihr angefreundet, und ich bin sehr erleichtert. Anne ist für sie im Augenblick die richtige Freundin.« Lady Bridget seufzte und sah Olivia besorgt an. »Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, weil Estelle nicht da ist. Es geht dir doch schon viel besser, und Estelle hat eine Abwechslung verdient. Sie ist in letzter Zeit so vorbildlich gewesen, daß …«
»Nein, natürlich bin ich nicht enttäuscht … vorbildlich hast du gesagt?« Olivia glaubte, nicht recht gehört zu haben.
Lady Bridget strahlte wie seit Wochen nicht mehr. »Du kannst es glauben oder nicht, sehr vorbildlich! Sie hat sogar Joshs Standpauke wegen der albernen Aufführung mit Fassung über sich ergehen lassen. Sie ist wie verwandelt. Kein Wort von …«
»Onkel Josh hat es ihr nicht erlaubt?«
»Natürlich nicht!« Lady Bridget sah sie überrascht an. »Auch wenn sie ihn damit nicht mitten in seinen Kirtinagar-Problemen überfallen hätte, wäre Josh unerbittlich geblieben. Aber sie hat es erstaunlicherweise gut aufgenommen. Ich kann dir nicht sagen, wie erleichtert ich darüber bin.«
Olivia hätte beinahe gefragt, wie es zur Zeit um das ›Kirtinagar-Problem‹ stand, aber dann rief sie sich energisch in die Wirklichkeit zurück. »Das freut mich«, sagte sie langsam und sah dabei Estelle an jenem unheilvollen Abend vor sich. »Wie schön, daß Estelle zur Abwechslung einmal nett ist.«
»Sie hat mir sogar einen Kuß gegeben.« Lady Bridgets Stimme zitterte. »Sie hat mich zum ersten Mal seit vielen Wochen zum Abschied geküßt. Und sie hat gesagt, es tut ihr leid, daß sie mir so viel Kummer gemacht hat.« Sie schwieg und räusperte sich. Dann sagte sie wieder resolut: »Also dieses Tuch ist wirklich hübsch. So etwas Schönes habe ich lange nicht gesehen. Ich weiß, Estelle wünscht sich eine Pashmina -Stola zu Weihnachten. Wenn es dir wieder besser geht, können wir dort, wo du sie gekauft hast, eine ähnliche für sie bestellen. Weißt du, es ist nicht nur Pashmina, sondern eine dieser Jam-e-wars aus Kaschmir. Hinreißend! Es muß sehr teuer gewesen sein. Wieviel hat es gekostet?«
Olivia gab vor, bereits wieder zu schlafen.
*
Die Kräfte kehrten wieder, die Gedanken wurden klar, und das Fieber kam nicht zurück. Für Olivia gab es keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu entfliehen. Nicht einmal Estelles kindisches Gerede war da, um die Fragen, die Verwirrung, die späten Einsichten und den Schmerz zu verbannen. Warum hatte Jai sie ohne Vorwarnung verstoßen?
Sie saß stundenlang im Garten, während ihre Tante Besuche machte, und kämpfte mit inneren Qualen, die sie bis jetzt noch nicht kennengelernt hatte. Der Schmerz bohrte ständig in ihrem Herzen, vertiefte die Wunde, die nicht heilen wollte, obwohl sie wußte, daß ihre Bitterkeit nicht berechtigt war. Jai hatte sich gegen ihre Liebe gewehrt, die sie ihm rücksichtslos aufdrängte. Er war ihr ausgewichen, wollte sich nicht mit ihr treffen, aber sie hatte ihn so lange bestürmt, bis er sich geschlagen gab. Er hatte sie immer wieder gewarnt, und sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Die wenigen Zeichen seiner Gefühle, die zögernden Küsse und vorsichtigen Zärtlichkeiten hatte sie in Berge verwandelt, wo es nur Kieselsteine waren. Nein, er hatte sie nicht verstoßen, denn er hatte sie nie in seine Nähe gelassen!
Aber alle noch so vernünftigen Gründe linderten nicht ihr Leid. In die tiefe Verzweiflung, in den Dschungel der Hoffnungslosigkeit drang nur ein
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