Wer Liebe verspricht
nieder und drückte vorsichtig die Zweige eines Rosenbuschs auseinander, der viele lange Dornen hatte. »Die Prunus Spinosa, mit anderen Worten«, er sah sie seltsam durchdringend an, »der schwarze Dorn. Du mußt wissen, Olivia, nach botanischen Gesichtspunkten sind Dornen gewissermaßen auch nur Zweige. Die gefährliche Spitze am Ende sticht natürlich und ist manchmal giftig – so giftig, daß ein Stich tödlich sein kann …« Er drückte den Daumen gegen einen Dorn, und ein Blutstropfen quoll hervor, »… aber ein Dorn läßt sich auch leicht entfernen. Paß auf!« Mit dem Fingernagel drückte er den Dorn vom Zweig. »Natürlich hinterläßt der Stich eine Narbe. Aber die heilt erstaunlich schnell.« Er stand auf, wischte das Blut am Taschentuch ab und lächelte. »Wie du siehst, mein Kind, die Natur schafft manchmal Probleme, aber dann bietet sie auch bereitwillig Lösungen an.«
Olivia zweifelte nicht mehr daran, daß er getrunken hatte, aber ihr Herz setzte einen Moment lang aus. Er versuchte, ihr etwas zu sagen! Was? Ihr wurde flau im Magen. Hatte er eine neue Bosheit im Sinn? Mutig fragte sie: »Wie ich höre, ist Mr.Slocum aus Kirtinagar zurück – hat er Neuigkeiten mitgebracht?«
»Nur das, was wir erwartet haben. Arvind Singh wird keine Anklage erheben.« Er zuckte die Achseln. »Dazu hat er natürlich das Recht.«
Der drohende Unterton alarmierte sie. Machte er sich wirklich keine Gedanken um die vernichtende Aussage? »Wird in diesem Fall der Schuldige ungestraft bleiben? Wird man ihn nicht vor Gericht stellen?« Ihr Herz klopfte heftig.
»Man wird ihn nicht vor Gericht stellen.« Er bückte sich und nahm eine dicke Raupe von einem Blatt und warf sie auf den Boden. »Aber ich kann dir versichern, er wird nicht ungestraft bleiben.«
»Oh?« Ihr wurde schwach. Sie sah ihn durchdringend an. Seine Lippen waren schmal, und er atmete heftig, so als habe er sich angestrengt.
Olivia folgte ihm schweigend ins Haus und in sein Arbeitszimmer. Dort sagte sie herausfordernd: »Es hat demnach einige neue und unerwartete Entwicklungen gegeben?« Sie mußte unter allen Umständen erfahren, was er vorhatte.
Er nahm seine Jacke von der Rückenlehne und zog sie an. »Neu – ja. Unerwartet? Nein, das würde ich nicht sagen.« Er schwieg. Olivia hoffte verzweifelt, er werde ihr freiwillig mehr sagen. Als sie schon die Hoffnung aufgegeben hatte, drehte er sich plötzlich um und sagte: »Erinnerst du dich an diesen Das, den deine Tante nicht ausstehen konnte?«
Das Blut klopfte ihr in den Schläfen. »Ja?«
»Wie ich höre, wird er vermißt.«
»Vermißt.« Die trockene Zunge schien ihr den Dienst zu versagen. »Ist das von … Bedeutung?«
Sir Joshua nahm seine seidene Krawatte, ging damit zum Spiegel und band sie sorgfältig. »Nein, nur – er ist tot.« Er zupfte an der ordentlich gebundenen Krawatte, bis sie richtig fiel.
Olivia stockte der Atem. »Tot? Woher weißt du das?«
»Instinkt! Das sagt mir mein Instinkt.« Er drehte sich um, lächelte unbestimmt und kniff sie sanft in die Wange. Seine Finger waren eiskalt. Verwirrt stellte sie fest, daß sie zitterten. »Verstehst du, mein Kind, Raventhorne hat ihn umgebracht. Es würde mich überraschen, wenn es nicht der Fall wäre.«
»Warum?« flüsterte sie tonlos und schauderte, wie gelassen und gleichgültig er über Dinge sprach, die aus seiner Sicht doch ein Geheimnis bleiben mußten. Seine seltsame Stimmung konnte nicht durch den Alkohol erklärt werden, den sie in seinem Atem roch. Wieso die Tollkühnheit, mit ihr über dieses Verbrechen zu reden?
»Verstehst du, Olivia«, fuhr er freundlich fort und überging ihre Frage, »er hat Das umgebracht und die Leiche versteckt. Slocum wird sie nie finden.« Sein Blick durchbohrte sie. Wie gebannt konnte sie die Augen nicht von ihm wenden. Sie verstand seine Anspielung.
»Und … du kannst es?«
»O ja«, sagte er leise, »o ja … Ich weiß genau, was in den Köpfen der Eingeborenen vorgeht.« Sein Lächeln wirkte gefährlich. »Und was in Raventhorne vorgeht, weiß ich so genau, als sei es mein Kopf.«
Erstarrt fragte ihn Olivia: »Was geschieht, wenn du die Leiche findest?«
Er blieb einen Augenblick regungslos und völlig versunken stehen. »Dann«, sagte er und richtete sich drohend auf, »wird Raventhorne hängen!« Er ging zur Tür und rief über die Schulter zurück: »Sag deiner Tante, daß ich zum Abendessen nicht da sein werde.« Er schlug dem kleinen Spaniel die Tür vor der Nase
Weitere Kostenlose Bücher