Wer Liebe verspricht
verspreche es. Ich verspreche es.« Sie erforschte angstvoll sein Gesicht, um den Grund für dieses Versprechen zu erkennen, aber sie verstand ihn nicht. In seinen blassen Zügen zeigte sich kein Lächeln. »Natürlich vertraue ich dir, Jai.«
Er sah sie seltsam wehmütig an und flüsterte: »Dann wirst du vielleicht soviel Menschlichkeit aufbringen, mir zu verzeihen.«
»Ich muß dir nichts verzeihen.« Sie wollte ihm noch soviel sagen. Sie wollte bei ihm bleiben. Sie wollte ihn lächeln sehen. »Ich habe dich klug und bereitwillig geliebt, Jai. Wie kannst du daran zweifeln, daß ich es nicht aus freien Stücken getan habe?«
Er schüttelte nur den Kopf. »Beeil dich. Du mußt gehen. Bald ist es hell, und man darf dich nicht sehen.« Er küßte sie nicht.
Unten im Beiboot legte Olivia die Hand über die Augen und blickte nach oben, um noch einmal das geliebte Gesicht zu sehen. Furchtlos und ohne Verlegenheit winkte sie. Er stand unbewegt an der Reling und winkte nicht zurück. Seine Sorge um ihren Ruf belustigte und rührte sie. Morgen würde es keinen Grund mehr zu Heimlichtuerei geben. Olivia war stolz, sehr stolz auf das Schicksal, für das sie sich entschieden hatte. Morgen sollte ganz Kalkutta es erfahren! Lachend hob sie noch einmal den Kopf und nahm gierig den letzten Blick von ihm in sich auf. Er blieb dort stehen, ohne sich zu bewegen. Der Wind blies die dunklen Haare wie eine Wolke um das Gesicht. Olivia wußte, seine Augen ließen sie nicht los. Ein erster Sonnenstrahl fiel plötzlich auf ihn. Etwas glänzte. Olivias winkende Hand erstarrte, und ihr Lächeln erstarb.
In Jai Raventhornes Augen standen Tränen.
*
»Cousine Maude schreibt, sie haben einen schönen Sommer in Norfolk. In der Flußmündung drängen sich die Boote, und am Ufer finden sich viele Ausflügler zum sonntäglichen Picknick ein.« Lady Bridget seufzte wehmütig. »Maude schreibt, sie sei zur Hochzeit einer Freundin in Kew gewesen, und die Parks seien mit Sommerblumen übersät.«
Olivia nahm sich eine Scheibe Toast und Rühreier, sagte aber nichts.
Lady Bridget ließ den Brief, den sie las, sinken. »Du hättest das Mittagessen nicht übergehen dürfen, mein Kind. Man könnte glauben, du hast wieder Fieber. Bist du wirklich gesund genug, um schon wieder auszureiten?«
»Ja, natürlich.« Offenbar hatte doch jemand bemerkt, daß sie mit Jasmine unterwegs gewesen war. Sie lächelte. »Ich bin nur müde.«
»Obwohl du so lange geschlafen hast? Das liegt sicher an dem Wechselfieber. Man ist danach noch lange schwach.« Sie las den Brief weiter.
Es war bereits vier Uhr nachmittags. Nach der verstohlenen Rückkehr von der Ganga hatte Olivia etwa neun Stunden geschlafen, aber sie war noch nicht munter. Ihr Körper war schlaff, schmerzte an bestimmten Stellen und erinnerte sie damit an die Nacht, in der sie gelernt hatte, was Liebe ist. Bei der Erinnerung daran wurde sie rot. Ihre Augen blickten in die Ferne. Sie sah, ohne etwas zu sehen.
Aber ja, ich liebe dich …
Olivia richtete sich auf. Das so lange verborgene Geheimnis mußte nicht länger ein Geheimnis bleiben. »Tante Bridget, ich glaube, ich muß dir etwas sagen …«
Ihre Tante hob den Kopf. »Ja, Liebes?«
»Es gibt jemanden, dem ich … ich mich … sehr verbunden fühle.« Sie schluckte und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten. Die Fingernägel unter dem Tisch gruben Halbmonde in die Handflächen. Schweißtropfen rannen ihr zwischen den Brüsten hinunter. Die unerwartete feuchte Kälte ließ sie zittern. »Ich … bin nicht so … ehrlich gewesen wie …« Sie schluckte noch einmal und hielt inne. Der noch eben so kühne Mut verließ sie. Hilf mir, Gott! Hilf mir!
Lady Bridget beugte sich vor und legte die Hände übereinander. Seltsamerweise lächelte sie. »Ich weiß, mein Kind«, hauchte sie, »ich weiß – du mußt es mir nicht sagen. Ich bin doch nicht blind! Erst vor kurzem habe ich zu Josh gesagt, es liegt etwas in der Luft. Wie sonst könnte der liebe Junge dir so viele Briefe schicken?« Sie lachte glücklich und drückte Olivia die Hand. »Laß dir Zeit, Liebes, laß dir so viel Zeit, wie du brauchst. Du kannst es mir sagen, wenn du soweit bist. Ich habe so lange gewartet, ich kann auch noch länger warten.« In ihren Augen glänzten plötzlich Tränen, und von ihren Gefühlen überwältigt, versagte ihr die Stimme. »Du kannst dir nicht vorstellen, mein Kind, du kannst dir nicht vorstellen, wieviel mir das bedeutet, was du mir
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