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Wer Liebe verspricht

Wer Liebe verspricht

Titel: Wer Liebe verspricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Ryman
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auf die Knie und tat genau das, was sie sich geschworen hatte, nicht zu tun: Sie weinte.
    Olivia hatte keine Ahnung, wie lange sie so am Fluß saß. Aber als sie die Tränen trocknete und sich dabei besser fühlte, erschrak sie. Plötzlich spürte sie, daß sie nicht allein war. Sie spähte über die Schulter, sah aber niemanden. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, war so stark, daß sich die Haare in ihrem Nacken sträubten. Nervös drehte sie sich noch einmal um – und erstarrte. Vor einem Busch hatte sich etwas bewegt. Langsam wurden in den dunklen Schatten die Umrisse einer menschlichen Gestalt erkennbar.
    Die wiederholten Warnungen ihrer Tante schossen Olivia durch den Kopf. Sie hatte Angst. In einem gewohnten Reflex tastete sie nach der Waffe in der Handtasche, und als sie sie fand, atmete sie auf. Wer war dieser Mensch, der hinter ihr saß? Welche unguten Absichten mochte er haben? Olivia wollte aufstehen und davonlaufen, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Aber plötzlich sprach er sie an.
    »Seien Sie unbesorgt. Ich sitze hier und tue genau dasselbe wie Sie – ich genieße die Einsamkeit.« Die Stimme klang kultiviert, und der Mann sprach Englisch. Olivias Spannung ließ etwas nach, aber dann fragte er: »Weshalb haben Sie geweint?«
    Sie erstarrte wieder. Hatte er schweigend hinter ihr gesessen, während sie weinte? Das war unverzeihlich und unhöflich! »Ich hatte den Eindruck, allein zu sein«, sagte sie steif. »Offensichtlich habe ich mich getäuscht.«
    »Aber Sie sind allein.« Er stand auf, kam langsam die Treppe herunter und lehnte sich mit verschränkten Armen an einen Baumstamm. »Wir sind alle allein. So sind wir in die Welt gekommen, und so werden wir sie auch verlassen: Allein – und in beiden Fällen ohne daß wir gefragt werden.«
    Sehr geistreich! Olivia war nicht beeindruckt. »Die Höflichkeit hätte verlangt, daß Sie sich bemerkbar machen.« Sie war verärgert und verlegen. Wer war er überhaupt – noch ein Gast, der vor den Pennyworthys geflüchtet war? »Ich mag es nicht, wenn man mir nachspioniert.«
    »Ich entschuldige mich bereitwillig, wenn ich Sie überrrascht habe. Ich versichere Ihnen, ich hatte nicht die Absicht zu spionieren. Normalerweise gehe ich hier abends mit meinen Hunden spazieren. Sie genießen den Auslauf und ich die Einsamkeit.«
    Olivia hörte Hundegebell, und die leichte Betonung von ›Einsamkeit‹ war kaum zu überhören. »Wenn ich Ihnen unwissentlich ins Gehege gekommen bin«, sagte sie und errötete dabei in der Dunkelheit, »ist es an mir, mich zu entschuldigen.«
    »Sie verstehen mich falsch. Meine Einsamkeit ist mir auferlegt. Also mache ich aus der Not eine Tugend. Ihre Anwesenheit ist in keiner Weise störend, im Gegenteil.« Seine schattenhafte Gestalt löste sich von dem Hintergrund des Blattwerks, und er setzte sich an das andere Ende der Treppenstufe.
    Er hatte höflich gesprochen, und Olivias Unmut verwandelte sich in Neugier. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen, aber sie sah, daß er groß war und ein helles Hemd und eine dunkle Hose trug. In dieser Aufmachung konnte er wohl schlecht auf der Gesellschaft gewesen sein. Betty Pennyworthy wäre bei seinem Anblick in Ohnmacht gefallen.
    »Na, wie ist denn das Theater da drinnen?« Er brach das Schweigen, um ihre unausgesprochenen Vermutungen zu beenden. Ein weißes Aufblitzen der Zähne verriet, daß er gelächelt hatte. »Aber Sie müssen die Frage eigentlich nicht beantworten. Die Tatsache, daß Sie allein hier draußen sitzen, sagt genug.«
    Verletzte Eitelkeit? War er jemand, den es ärgerte, daß er nicht auf der Gästeliste stand? »Es war so heiß. Ich hatte das Gefühl, frische Luft zu brauchen. Nur aus diesem Grund bin ich hier.« Etwas boshaft fügte sie hinzu: »Kennen Sie die Pennyworthys?«
    Er ließ die Arme sinken und zuckte mit den Schultern. »Kalkutta ist ein Dorf. Ganz gleich, ob es sich lohnt, jemanden zu kennen oder nicht, jeder kennt hier jeden.«
    Diese Feststellung mochte noch so bissig sein, sie ließ sich kaum widerlegen, und Olivia nickte. »Ja, ich nehme an, so ist es in allen Kolonien.« Er lachte leise, sagte aber nichts.
    Die Etikette hätte vorgeschrieben, daß er seine Identität nicht länger verheimlichte. Aber er machte keine Anstalten, sich vorzustellen. Sichtlich hatte auch er nicht den Wunsch zu erfahren, wer sie war! Diese offenbar bewußte Unterlassung gab Olivia wieder ein unbehagliches Gefühl. Er benahm sich überhaupt ungewöhnlich, von

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