Wer Liebe verspricht
schmiedeeiserne Tor war zwar verschlossen, stellte jedoch kein Hindernis dar. Mit einem raschen Blick über die Schulter raffte Olivia die Röcke und kletterte darüber.
Es war spät, und auf dem Uferdamm war niemand zu sehen. Olivia war dankbar für die Einsamkeit, holte tief Luft und seufzte erleichtert auf. Es war eine ungewöhnlich klare Nacht. Sterne hingen tief wie Trauben am glatten, cremigen schwarzen Himmel. Ein Melonenmond, der noch nicht ganz aufgegangen war, schwebte gefangen in den Silhouetten von Palmwedeln dicht über dem Horizont. Abgesehen vom Konzert der Natur herrschte völlige Stille. Blätter raschelten, hin und wieder hallte das ferne Klatschen von Ruderern über den Hooghly. Ziegenmelker schnurrten, die Frösche am Ufer quakten, und die wechselnden Klänge der unvermeidlichen Zikadensymphonie drangen durch die Dunkelheit. Im unsteten Licht des aufgehenden Mondes entdeckte Olivia eine Steintreppe, die zum Fluß führte. Sie lief hinunter, zog die Sandalen aus, setzte sich auf die unterste Stufe und tauchte die Fingerspitzen in das köstlich kühle Naß.
In der Dunkelheit schienen die Entfernungen endlos und unermeßlich. Wie immer stellte sich mit der nächtlichen Einsamkeit ein erhebendes Gefühl der Freiheit ein, eine ungeheure Befreiung von allen Fesseln. Erinnerungen regten sich, stiegen auf und flogen über Raum und Zeit hinweg, um Bilder und Stimmen zu beschwören, die sie nicht zum Schweigen bringen konnte. Olivias Gedanken eilten zurück zu anderen, ähnlichen Nächten, als sie mit ihrem Vater zusammen war, der Geruch des Regens von der Erde aufstieg und die Welt mit Frische erfüllte. In einer solchen Nacht hatte sie neben ihm am breiten Mississippi gestanden und über das ruhig fließende Wasser geblickt, das im silbrigen Mondlicht kleine Wellen schlug. In der unendlichen Stille, in der man den Wind nur mit dem inneren Ohr hören konnte, hatte ihr Vater gesagt: »Das jungfräuliche Land, das du vor dir siehst, ist heute eine Wildnis. Aber morgen, noch in unserem Leben, wird das Unfruchtbare sich auftun, und die gesegnete Erde wird Riesen hervorbringen. Eines Tages werden wir stolz auf das sein, was aus diesem Brachland hervorgeht, denn seine Frucht wird die Welt in Staunen versetzen. Vergiß nie, Olivia, hinter allem steht ein großer Plan, und auch wir, du und ich, sind Teil dieses Plans.«
Sie war damals kaum zwölf Jahre alt gewesen. Aber sie hatte seine Worte nie vergessen. Ihr Vater sprach voll Ehrfurcht, mit einer solchen Leidenschaft und soviel schlichtem Glauben, daß ihr die Erinnerung daran die Kehle zuschnürte. Es war ihr wie ein Wunder vorgekommen, daß auch sie an diesem Versprechen teilhaben durfte, an der Zukunft dieses süß-herben, wild-sanften Landes, das Menschen wie ihr Vater zu einer Nation zusammenschmiedeten. Über Meere und Kontinente und Abgründe trennender Einsamkeit hinweg dachte Olivia an Sally und an den einäugigen Jack, an Bucktooth und an Rote Feder, an Sallys Söhne und an Greg. Besonders an Greg. Sie sah sein zaghaftes Lächeln, seine ruhigen, klaren Augen und die Traurigkeit darin, als sie ging. Sie dachte an Spike, ihren zottligen Mischlingshund, den sie als Welpen vor den Coyoten gerettet hatte, und an ihr Appaloosa-Pferd Domino mit seinem weißen Fell und den schwarzen Flecken mit einem Anflug von Rot, das ihr Vater ihr zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Obstgärten, die Korrale und die Koppeln, über denen der würzige Geruch von frisch gemachtem Heu hing, und ihr stieg der vielversprechende warme Duft von Sallys Krapfen, die nach dem Backen mit Zucker und Zimt bestreut wurden, in die Nase, der Hickoryrauch aus den Kochhütten und der schreckliche Gestank der Stumpen, die ihr Vater sich hartnäckig weigerte aufzugeben. Olivia fragte sich, ob es in Kalifornien jetzt Tag oder Nacht war. Und war es warm? Regnete es? Wer briet ihrem Vater auf dem Walfänger aus Nantucket jetzt morgens die Spiegeleier mit Speck? Wer erinnerte ihn an Briefe, die zu schreiben waren, an Schnürsenkel, die gebunden und an Tintenflecke auf den Manschetten, die entfernt werden mußten, aber sofort durch neue ersetzt zu werden drohten …?
Der Kloß in Olivias Hals wuchs. Selbstmitleid stieg in ihr auf, überschwemmte sie und hüllte sie ein wie ein Schleier. Was um alles in der Welt tat sie hier, eine Ewigkeit von allem und allen entfernt, die sie liebte …? Überwältigt von Melancholie und Verzweiflung legte sie den Kopf
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