Wer Liebe verspricht
gewesen, sich jetzt, wo sie sich auf dem absoluten Tiefpunkt befand, der einzigen emotionalen Stütze zu berauben, die ihr noch blieb. Sie brauchte Amos zum Überleben und um sich allem zu stellen, was noch kommen mochte. Sie dachte kurz an Cawnpore und wußte, auch Estelle hatte den absoluten Tiefpunkt erreicht, die schlimmste Stunde der inneren Not. Der Verlust des Vaters mußte sie schrecklich getroffen und neue qualvolle Schuldgefühle ausgelöst haben. Der Versuch, zu klären, wer wann was in Gang gesetzt hatte, war im Augenblick sinnlos. Aber das giftige Samenkorn, das Estelle mitgeholfen hatte zu säen, und aus dem soviel Elend für sie alle erwachsen war, würde nun Estelles Gedanken unweigerlich noch mehr vergiften. Aber auch wenn sie den Wunsch hatte, Estelle zu trösten, so mußte sie jeden Gedanken daran aufgeben. Dr.Humphries würde ihr nicht erlauben, in ihrem Zustand mit der Kutsche über holprige Straßen zu fahren. Und im Augenblick war nichts wichtiger in Olivias Leben als die unerwartete ›Mango‹, die sich ohne Vorwarnung eingestellt hatte.
Olivia glaubte keinen Augenblick daran, daß Jai Raventhorne sehr lange in Assam bleiben werde und ihr die Flucht vor ihm doch noch gelingen könne. Die Konstellation der Sterne war ihr so feindlich, daß ein solches Wunder selbst bei göttlichem Wohlwollen nicht möglich sein würde.
Arthur Ransome steckte noch immer im tiefen Sumpf seiner Niedergeschlagenheit. Er besuchte sie täglich, und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das von ihr ausging, bedrückte ihn noch mehr. Er mißbilligte es, daß Olivia sich so entschieden von allem zurückzog. Viele wohlmeinende und mitfühlende Besucher erschienen und gaben ihre Visitenkarten ab, ganz besonders, nachdem die Nachricht von Sir Joshuas schrecklichem Tod durch einen menschenfressenden Tiger die Stadt tief erschüttert hatte. Aber Olivia wollte nur Ransome sehen, die Donaldsons und Dr.Humphries. Wie seit einiger Zeit üblich, erschien Ransome mit den Zeitungen der Stadt, den englischen und den einheimischen, in denen jeden Tag überschwengliche Nachrufe auf den ehemaligen ungekrönten König unter den Kaufleuten standen. Trotz des Niedergangs hatte er der Geschäftswelt der Stadt unauslöschlich seinen Stempel aufgedrückt. Natürlich gab es viele versteckte und feindselige Anspielungen auf Raventhorne, aber kein Wort fiel über den denkwürdigen Abend, an dem Sir Joshuas Sterben begonnen hatte, lange bevor er den Revolverlauf in den Mund hielt und abdrückte. Durch seinen Tod schien Sir Joshua die Vergebung der Stadt für sein Handeln zu erhalten, das viele für feige hielten, das man jetzt jedoch als ehrenhaftes Mitleid gegenüber einem unbewaffneten Gegner bezeichnete. Die Zeitungen schrieben viel über die großen Leistungen von Templewood und Ransome und schmückten ihre Berichte mit abenteuerlichen Geschichten über die Zeit in Kanton aus. Ransome überließ sich den Erinnerungen und einem Leben, das durch die Zeitungsartikel wieder lebendig wurde. Er las sie Olivia laut vor und war so wieder mit einem Freund zusammen, den er für immer verloren hatte. Als letzten Akt seiner Treue hatte er den wahren Grund des Todes von Josh in der Todesanzeige verheimlicht.
Eines Tages schlug Ransome Olivia zögernd vor, Estelle nach Kalkutta zu rufen. Das Leben aus zweiter Hand, das ihm die gedruckten Worte bescherten, hatte ihn erschöpft. Vielleicht steckte aber auch der gute Dr.Humphries hinter diesem Vorschlag. »Du mußt ihr verzeihen, Olivia. Denk doch nur, das arme Kind hat beide Eltern verloren …«, sagte er bedrückt. Ransome wußte natürlich nichts von dem Gespräch zwischen ihr und Estelle. »Auch in Komödien sind Mißverständnisse und Unwissenheit nur das Vorspiel zu einem glücklichen Ende. Ich glaube, wir müssen unser Unglück den ›tragischen Umständen‹ zuschreiben, die aber selbst jetzt nicht völlig hoffnungslos sind. Was noch geschehen mag, wird vielleicht doch zu einem guten Ende für uns führen.« Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. »Ich meine für die von uns, die noch leben.«
Olivia wandte den Blick ab. Wie sollte dieser liebenswürdigste und ehrlichste der dramatis personae wissen, daß die tragischen Umstände gerade jetzt hoffnungsloser denn je waren und ein Ende weiter denn je entrückt schien? Olivia litt so sehr unter ihrem eigenen Kummer, daß sie Ransome nicht antwortete. Die unfehlbare Ehrlichkeit, mit der sie sich immer kritisch betrachtete, sagte Olivia
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