Wer Liebe verspricht
aufgestachelt. Man hatte britische Unternehmen und Einwohner vor Vergeltungsaktionen von Banden empörter Inder gewarnt. Fort William hatte den Richter des Distrikts routinemäßig informiert. Aber Slocum nahm die Sache nicht weiter ernst. Bisher jedenfalls hatte niemand unter den Kaufleuten mit doppelten Wachtposten und dem Einstellen neuer Leute reagiert. Donaldson wies Olivia nicht darauf hin, denn sie wußte das alles. Aber ihm wurde es noch flauer im Magen.
»Und noch etwas.« Olivia wußte, Donaldsons Blässe war nicht auf Herzschwäche zurückzuführen, denn er besaß kein schwaches Herz, und sie nahm keine besondere Rücksicht. »Man soll Abrahams und seine Leute sofort rufen. Ich möchte, daß innerhalb einer Stunde mit dem Abriß begonnen wird.«
Auch Estelle war wie Donaldson bleich geworden, als sie Olivias selbstbewußte Anweisungen hörte, die roten Flecken auf ihren Wangen sah und die Erregung bemerkte, die sie hervorgerufen hatte. Im Gegensatz zu Donaldson fiel es ihr jedoch nicht schwer, den Kern des Problems zu erraten.
»Du hast Jai gesehen und mit ihm gesprochen, nicht wahr?« fragte sie, als Donaldson gegangen war und sie am Frühstückstisch saßen.
»Ja.« Es gab keinen Grund, Estelle zu belügen.
»Und er hat dein Angebot abgelehnt?« fragte sie sarkastisch.
»Im Augenblick, ja.«
»Wie kommst du zu dieser Überzeugung?«
»Wenn die Abbrucharbeiten beginnen, wird er seine Meinung schnell genug ändern.«
»Er wird seine Meinung nicht ändern«, erwiderte Estelle ruhig. »Das hat er noch nie getan. Wenn du wirklich daran glauben würdest, weshalb dann die Vorsichtsmaßnahmen?«
Olivia erwiderte wegwerfend: »Es wäre töricht, unvorbereitet zu sein. Wir kennen beide seine Methoden.«
Ja, das stimmte. Wer kannte Jai Raventhornes Methoden besser als sie! Estelle machte sich im Augenblick jedoch keine Sorgen über Jai Raventhornes Methoden, sondern über die ihre Cousine. Aber das sagte sie nicht.
Olivias persönlicher Bote überbrachte ihr die erste Antwort bald nach dem Frühstück. Mordecai Abrahams teilte ihr mit dem allergrößten Bedauern mit, es sei ihm nicht möglich, die Abbrucharbeiten auf dem Gelände des Templewood-Hauses noch in dieser Woche durchzuführen. Er müsse einen noch dringenderen Auftrag erledigen. Er sei dazu gezwungen worden, diesen Auftrag sofort auszuführen. Am nächsten Montag würde er ganz bestimmt bei Tagesanbruch … Olivia las den Rest nicht. Wutschnaubend zerriß sie die Nachricht und ließ ihren Ärger an dem bedauernswerten Boten aus. Ohne Zeit zu verlieren, schickte sie den Mann zu drei anderen Bauunternehmern, die ihr ebenfalls Angebote unterbreitet hatten. Wer von ihnen den Auftrag übernehmen würde, sollte sofort mit dem Abbruch beginnen, erklärte sie dem Boten. Sie befahl ihm auch, über den Preis nicht zu verhandeln. Sie würde das Doppelte von dem bezahlen, was der Betreffende verlangte.
Zu diesem Zeitpunkt erschien bei Olivia ein höchst unerwarteter Besucher: Ram Chand Mooljee. Olivia war mehr als verblüfft. Sie wußte, Mooljee bemühte sich niemals zu seinen Kunden. Sie mußten zu ihm kommen. Olivia ließ ihn in das Arbeitszimmer im Erdgeschoß führen, und als sie erschien, verneigte sich Mooljee vor ihr, berührte ihre Füße und begann sofort, sich wortreich selbst zu beschuldigen. Er sei ein Schurke, ein verachtenswerter Mann, der Sohn eines räudigen Kamels, ein Verräter, der es verdiene zu hängen – o nein, hängen sei noch zu gut für ihn. Man sollte ihn …
»Wo liegt das Problem, Mr.Mooljee?« unterbrach Olivia gereizt seine lächerlichen Tiraden. »Haben Sie ein besonderes Anliegen, das Sie heute so früh zu mir führt?«
Er hatte ein besonderes Anliegen. »Zu meiner Schande muß ich gestehen, ehrenwerte Memsahib«, stöhnte Mooljee, »man sollte mir die Zunge herausreißen und die Haut bei lebendigem Leib abziehen.« Er seufzte und schien in Tränen ausbrechen zu wollen. Dann zog er ihre Samtschatulle aus den Falten seines voluminösen Gewands und legte sie auf den Tisch. »Ich bedaure zutiefst, aber ich kann Ihren Schmuck nicht länger behalten.«
»Und warum nicht?« Jetzt staunte Olivia noch mehr.
Alle Reue vergessend, wurde Mooljees Gesicht ausdruckslos. »Ich befinde mich plötzlich in einer unvorhergesehenen, äußerst schwierigen finanziellen Situation – eine Familienangelegenheit. Ich kann nicht darüber sprechen. Aber ich bin in Geldnöten, in einer schweren Krise. Meine Frau und meine Kinder sind
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