Wer Liebe verspricht
seinen Sohn zu sehen?«
Olivia schüttelte zitternd den Kopf. »Nein!«
»Ich weiß, Sie haben sich diesem Thema verschlossen. Aber damit ist es nicht aus der Welt geschafft«, beschwor sie Kinjal. »Sie mögen es zugeben oder nicht, Jai hat sich ehrenhaft verhalten. Sie haben selbst viel durchgemacht. Können Sie sich seine Selbstverleugnung, das Ausmaß seines Verlusts nicht vorstellen? Er hätte das nicht auf sich nehmen müssen. Und wir alle haben seine Großmut nicht erwartet. Aber er hat sich zu diesem Schritt überwunden. Glauben Sie nicht, er hat wenigstens diese kleine Geste verdient?«
Panik zuckte über Olivias Gesicht. Ihre blasse Haut wurde noch bleicher. Unsicher versteckte sie sich hinter dem Fächer. »Ich kann es nicht wagen, Kinjal. Sie müssen das verstehen, ich kann es nicht wagen. Er hat einmal nachgegeben. Vielleicht wird er es ein zweites Mal nicht tun.«
»Sie können ihm noch immer nicht vertrauen?«
»Ich hatte mich innerlich darauf eingestellt, ohne meinen zweiten Sohn zu leben. Aber wenn ich Amos jetzt verliere …!« Die alten, kaum verheilten Wunden begannen wieder zu bluten. Sie verübelte es Kinjal sehr, sie gezwungen zu haben, der Sache wieder ins Gesicht zu blicken.
»Jai würde Sie nie wieder verletzen …«
»Nein – er wird keine Möglichkeit mehr dazu haben!« Verwirrt, verunsichert und gepeinigt von den Schmerzen, die sie nie mehr verlassen würden, sprang Olivia auf und rannte aus dem Zimmer.
Kinjal sah ein, daß es sinnlos war. Was Jai Raventhorne anging, war Olivia noch immer nicht in der Lage, vernünftig zu denken.
*
Es kommt immer der Zeitpunkt, an dem man sich sogar an den Schmerz gewöhnt. Nachdem alle sie verlassen hatten – auch Alistair –, sank Olivia in eine tiefe Depression. Sie liebte Amos über alles, aber auch der Kleine konnte ihr den ungeheuren Verlust so wenig ersetzen, wie ein Bein das amputierte zweite ersetzen kann. Das Ausmaß ihres Kummers machte ihr Angst, denn er war bodenlos. Amos würde niemals mit seinem Bruder spielen. Sie würde nie wissen, wie Alistair aussah, nie die eigenen Züge in ihm gespiegelt sehen und sich immer nur Fragen stellen, Fragen, Fragen … Alistair würde auch nie die Mutter kennen und lieben, die bei seiner Geburt beinahe das Leben verloren und ihn dann weggegeben hatte wie einen unerwünschten Gegenstand, den man für wohltätige Zwecke stiftete. Würde er das verstehen? Konnte er es verstehen? Er war ihr Sohn. Ihr Blut hatte ihn ernährt, und doch würde sich ihr Schicksal und sein Schicksal auf verschiedenen Seiten der Erde erfüllen, ohne sich zu berühren oder zu durchdringen. Sie waren für immer wie Fremde, die sich nicht kennen, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Im Lauf der Jahre würden sie beide vielleicht lernen zu glauben, der andere sei tot. Aber im Augenblick hatte Olivia das beklemmende Gefühl, Alistair lebendig begraben zu haben …
Wie kann ich Jai Raventhorne nicht hassen?
Arthur Ransome kehrte aus Cawnpore zurück. Ohne alle Förmlichkeiten schloß er Olivia in die Arme. »Oh, mein Kind, mein armes, armes Kind …« Mehr konnte er nicht sagen.
An seinen trostspendenden Schultern und in der Gewißheit seiner bedingungslosen Liebe weinte sie. »Du hast mir gefehlt, Onkel Arthur. Oh, du hast mir so gefehlt!«
»Ja, ich weiß. Estelle hat mir alles erzählt. Aber gewisse Dinge … haben meine Zeit länger in Anspruch genommen. Ich wollte früher zurückkommen, aber ich habe es nicht über mich gebracht.« Er streichelte ihr unbeholfen den Rücken.
Olivia schämte sich ihrer egoistischen Worte. Auch er hatte einen schrecklichen Verlust erlitten und den Tod seines Freundes und Partners noch nicht verwunden. Auch er mußte getröstet werden, mußte lernen, mit einem amputierten Bein zu leben. Olivia trocknete die eigenen Tränen und versuchte, sein Leid zu lindern. Sie sprachen über Sir Joshua. Er erzählte von den alten Zeiten in Kanton, von den abenteuerlichen Jahren, als sie noch jung, unsterblich und unbesiegbar waren. Sie redeten stundenlang miteinander, behandelten Ransomes Wunden mit dem Wundermittel der Erinnerungen, und sie lachten auch, denn unvermeidlich kam das Gespräch auf Lubbock, seine erfrischende Derbheit und das Geschäft, das mittlerweile florierte.
Über Jai Raventhorne sprachen sie nicht.
Schließlich fragte Ransome besorgt: »War es klug, dein Kind in diesem Alter zu Freddie zu schicken?« Er war unglücklich über die gescheiterte Ehe, aber Olivias
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