Wer Liebe verspricht
der Pferdehufe vorüber. Weiter unten, an der Kreuzung Chowringhee und Dharamtala Road, fegten Männer mit Besen als Vorbereitung zum Gottesdienst die Stufen einer Kirche. Die Gemeinde war an diesem Sonntag allerdings noch nicht unterwegs – zweifellos lagen die meisten nach dem Ball bei den Templewoods, wo viele als Gäste gewesen waren, noch im Bett.
Olivia hatte trotz ihrer Erschöpfung oder vielleicht gerade deshalb nicht lange schlafen können. Sie war früh zum gewohnten morgendlichen Ausritt aufgestanden, lange bevor sich im Haus etwas regte. Es gehörte zu den erfreulichen Dingen, die Estelles Ball mit sich brachte, daß schon die Vorbereitungen absoluten Vorrang hatten, und es im allgemeinen Durcheinander niemandem aufgefallen war, ob sie allein oder in Begleitung ausritt. Auch an diesem Morgen konnte sie unbeobachtet das Haus auf Jasmine verlassen. Nach den Anstrengungen des vergangenen Abends schliefen Lady Bridgets Diener noch alle tief und fest. Olivia wollte schon lange einmal den bunten Basar nahe der Chitpur Road erforschen, und Mr.Courtenays (oder Poultenays) Rat am Abend zuvor bestärkte sie in ihrem Wunsch. Natürlich hatte sie Glück, daß die Umstände sich für diesen verbotenen Ausflug als günstig erwiesen. Und daran, daß sie den ausdrücklichen Befehl ihrer Tante mißachtete, dachte Olivia in ihrer Vorfreude keinen Augenblick. Es war unwahrscheinlich, daß jemand von diesem kleinen – und in ihren Augen – absolut harmlosen Unternehmen etwas erfuhr.
Im rosigen Morgenlicht, das getränkt war vom würzigen Geruch der Holzfeuer, wirkten die Gebäude an der Esplanade und am Tank Square, an denen sie vorüberritt, wirklich sehr herrschaftlich. Wie immer faszinierte Olivia das Nebeneinander von Ost und West. Vor dem Writer’s Building, dem Sitz der Ostindien-Kompanie, standen Brahmanen bis zur Hüfte im Wasser des Teichs. Sie hatten die heiligen Schnüre über ein Ohr gehängt, hielten die Perlenketten in der Hand und intonierten ihre Anrufungen. Gruppen indischer Kinder mit eng anliegenden öligen Haaren – manche trugen sie auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden – starrten neugierig auf Männer in armenischer Kleidung, die sich erregt am Straßenrand stritten. Ein Kamel mit Messingringen in den Nüstern trottete hinter seinem Führer her, ohne eine vorbeifahrende europäische Kutsche auch nur eines Blickes zu würdigen.
Trotz des Heimwehs konnte Olivia nicht leugnen, daß Indien sie als Land faszinierte. Hier erlebte man eine seltsame Mischung von weltlich und geistig, von alt und neu, von barbarischem Aberglauben und uralter Weisheit, Sanftheit und Wildheit, Grausamkeit und Mitgefühl. Es gab unendlich viele Widersprüchlichkeiten. Oft war das Leben hart für unvorsichtige Weiße, die auf Gnade und Ungnade unbekannten Krankheiten und glühendheißen Sommern ausgeliefert waren, und die der Tod mit erschreckender Plötzlichkeit ereilte, wenn sie es am wenigsten erwarteten. Die Kindersterblichkeit war hoch, und nicht selten standen Eltern über Nacht allein. Geliebte Menschen konnten im Handumdrehen von einer Seuche dahingerafft werden. All das hatte Olivia inzwischen gelernt. Aber sie spürte, daß für Weiße, die ihre Sinne öffneten – und es gab viele, die es taten –, Indien auch ein Garten der Freude sein konnte, so freigiebig und üppig wie das Blühen im Frühling.
Trotz der frühen Morgenstunde herrschte auf dem Markt geschäftiges Treiben. Die Reihen der Stände unter den schrägen Sonnensegeln boten den Käufern eine verwirrende Auswahl von Waren: geflochtene Bambuskörbe, Holzsandalen mit Lederriemen, Götterstatuetten aus Messing, Bücher, Tongeschirr und Küchengerät, Ballen von Baumwollstoffen, Seile und Matten aus Jute, hölzernes Spielzeug, gläserne Armreifen, Lebensmittel, Gewürze, Getreide, Gemüse, prächtige Sträuße frisch geschnittener Blumen und alles Erdenkliche, was für einen Haushalt notwendig war. An manchen Ständen brannten Feuer, über denen Süßigkeiten oder pikante Gerichte zubereitet und den Käufern auf Bananenblättern serviert wurden. Olivia war von dem bunten Treiben gefesselt. Gegenüber einem hohen Hindutempel mit Kuppeln saß sie ab und beobachtete einen Mann, der mit gekreuzten Beinen vor einer riesigen Pfanne saß. Darin bruzzelten Teigringe, die er in Sirup tauchte, wenn sie goldgelb ausgebacken waren. Olivia hatte noch nie indische Süßigkeiten versucht, da sie bei den Weißen nie auf den Tisch kamen. Die Teigkringel
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