Wer liebt mich und wenn nicht warum
aber bald.
Inzwischen weiß ich: Tom ist hier auf der Insel, weil Herr Welter ihm einen Job vermittelt hat. Und Tom hat ihn angenommen, weil er auf eine Reise nach Island spart, das hat er Maiken erzählt.
Gut. Von Island träumt er schon lange. Bestimmt bringt er mir was mit und mogelt es mir in die Jackentasche. Vielleicht ein bisschen Vulkangestein. Daran denke ich jetzt und an sonst gar nichts.
Mann, bin ich gereift!
Ich gebe aber zu: Ich trau mir da selbst noch nicht ganz. In schwachen Momenten muss ich Vicky nur ansehen und meine Reife schmilzt dahin wie Ötzi in der Sonne. Deswegen ist es besser, wenn ich noch für ein bisschen Abstand zwischen ihr und mir sorge. Bevor ich Vicky also dabei zusehe, wie sie ihre Netze um Tom spinnt, wohne ich lieber hier und genieße die Gesellschaft von echten Spinnen.
0.39 Uhr Ich kann immer noch nicht schlafen, die Krabbelviecher nerven mich. Soll ich sie doch essen?
In meinem schlauen Buch steht, Ekel sei nicht angeboren, sondern anerzogen. Von Natur aus ekeln sich Menschen nämlich vor fast gar nichts. Und weil Ekel ein Kulturprodukt ist, ekeln sich überall Menschen auf der Welt vor anderen Dingen. InKambodscha zum Beispiel essen die Leute frittierte Taranteln und finden sie lecker. Dafür ekeln sie sich vor Käse, der für sie nichts anderes ist als vergammelte Milch, und den finden wir wiederum lecker.
Urahn Ötzi hat übrigens keine Krabbeltiere gegessen. Seine letzte Mahlzeit bestand aus Steinbockfilet, Brot und Salat und am Tag vorher gab’s bei Ötzis Hirsch. Die Fliegenmade, die man in seinen Innereien fand, hat er wohl aus Versehen mitgefuttert.
0.49 Uhr Ich glaube, ich gebe den Krabblern jetzt einfach Namen und versuche, sie lieb zu haben. Wenn ich es lerne, ihre Füße niedlich zu finden, stören sie mich vielleicht nicht mehr. Diese Ameise hier heißt jetzt also Amelie. Na, Süße?
0.51 Uhr Autsch. Amelie hat gebissen.
0.52 Uhr Ha! Wenn’s nur das wäre! In meinem schlauen Buch steht: Nicht der Biss der Ameisen schmerzt. Sie pinkeln einen hinterher auch noch mit Ameisensäure an, deswegen brennt das so. Also echt, Amelie, das ist nicht witzig. Ich überlege ernsthaft, ob ich dich doch essen sollte.
Nein, keine Angst, Mama hat nur Spaß gemacht.
0.54 Uhr Ich glaube, das war gar nicht meine Amelie, die tut so was nicht, das war einer ihrer Kumpels. Es sind nämlich plötzlich ganz viele Ameisen da, sie hat wohl Freunde eingeladen und so langsam artet das aus wie eine Facebook-Party. Ich verlagere meinen Schlafplatz vielleicht mal ein bisschen nach links, könnte sein, dass ich mich auf einen Ameisenhügel gebettet habe.
1.03 Uhr Da raschelt was im Schilf. Klingt wie ein kleines Tier. Bestimmt ist es ein freundliches, niedliches, wuscheliges mit schwarzen Knopfaugen, das nur Nüsse frisst und Obst knabbert. BESTIMMT!!!
1.05 Uhr Ein Vogel! Ich habe ihn mit meiner Taschenlampe angeleuchtet, da ist er weggeflattert.
1.07 Uhr Vielleicht sollte ich gar nicht mehr schreiben, sondern lieber schlafen? Ich versuch das jetzt mal. Wenn ich es nämlich tatsächlich schaffe, allein am Seeufer einzuschlafen, kann ich jede Nacht hier draußen übernachten. Dann sehe ich Vicky so gut wie gar nicht mehr, höchstens vielleicht mal vom Hochsitz aus, wie sie in einem Kuhfladen stochert, was ich möglicherweise sogar ganz gern sehe. Dann bin ich frei und sie kann mir nichts mehr anhaben. Also los.
1.09 Uhr Ich schaff das. Ist doch gar nicht so schwer. Einfach Augen zu und gleichmäßig atmen.
1.11 Uhr Ötzi musste auch allein unter freiem Himmel schlafen. Okay, vielleicht war er ja gar nicht allein, das weiß man natürlich nicht. Aber wenn jemand bei ihm war, dann war es vielleicht sogar sein Mörder und auf solche Gesellschaft kann ich gern verzichten. Wenigstens vor Bösewichtern bin ich hier auf der Insel sicher. Wer sollte hier schon nachts sein Unwesen treiii———————
1.35 Uhr Himmel!!! Das war der Schock meines Lebens. Mirzittern immer noch die Finger, ich kann kaum schreiben. Eben brach eine dunkle Gestalt durchs Schilf und kam grunzend und schwer atmend auf mich zu, gerade als das Licht meiner Taschenlampe schwächer und schwächer wurde und ich in der kohlrabenschwarzen Dunkelheit nur noch Sachen im Umkreis von 30 Zentimetern erkennen konnte.
Ich wollte aber nicht warten, bis das Grunzwesen so nah war! Auf gar keinen Fall! Also nutzte ich meine Taschenlampe anders. Ich warf sie mit
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