Wer liest, kommt weiter
Dingen, die jeden Tag geschehen, sie sortieren Nachrichten, ordnen sie ein, kommentieren und erzählen Geschichten in wundervollen Reportagen. ... Kein aktuelles Medium kann so gut Hintergründe anschaulich machen wie eine Zeitung.
Wenn wir also beim Frühstück die Tageszeitung lesen, ist das so etwas wie ein tägliches Hirn-Jogging, ein geistiges Fitneß-Training, bei dem wir auch unsere Kenntnisse in den Gebieten, die uns interessieren, auf den neuesten Stand bringen.
Und was für die Muttersprache gilt, gilt natürlich auch für eine Fremdsprache. Auch bei Fremdsprachen ist die Lektüre von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen eine ganz hervorragende, viel zu wenig beachtete Lernmethode.
Wer fremdsprachige Texte liest, lernt Sprachen
In meiner Schulzeit in München habe ich zwei Jahre lang im Wahlunterricht Russisch gelernt, leider vergeblich. Mein Banknachbar Gerald hat es besser gemacht als ich, er war fleißiger und war so weit gekommen, daß er russische Bücher lesen konnte, zuerst einfache, dann immer schwierigere. Ich aber erreichte leider nie das Niveau, um Texte einigermaßen flüssig lesen zu können. Das Lesen aber ist wie das Lernen eines Musikinstruments. Man muß so weit kommen, daß es Spaß macht. Dann macht man Fortschritte durch »Learning by doing«.
Unsere kluge und strenge Tante Dr. Edith Schwarz, Sprachenlehrerin am Gymnasium in Tegernsee, gab uns nur dicke Bücher zu lesen, David Copperfield von Charles Dickens oder Les Misérables von Victor Hugo, und empfahl uns, nur wenige Wörter im Lexikon nachzuschlagen, um das Leseerlebnis nicht zu unterbrechen. Sie wußte, daß man beim Lesen eines Buches viel mehr lernt, als man bemerkt: Wörter, Redewendungen, sprachliche Strukturen und immer auch Inhaltliches.
Als Französischlehrer habe ich diese Methode nachzuahmen versucht und meine Schüler dazu ermuntert, einfache Bücher zu lesen, von denen es in der französischen Literatur viele gibt: Die kahle Sängerin, La cantatrice chauve von Ionesco, Geschlossene Gesellschaft, Huis clos von Jean-Paul Sartre, Le petit prince von Antoine de Saint-Exupéry oder Voltaires Candide. Und vor allem natürlich meine Lieblings-Lektüre: Les aventures de Tintin. Wer die Die Abenteuer von Tim und Struppi im Original liest, lernt sozusagen spielend Französisch.
Auf der anderen Seite kann man eine Fremdsprache auch wieder verlernen. Wenn ich eine Zeitlang wenig Französisches gelesen hatte oder längere Zeit nicht in Frankreich gewesen war, merkte ich, wie ich »schlechter« wurde. Das gilt auch beim Sprechen der eigenen Sprache. Auch da kann man aus der Übung kommen, wenn man zu wenig spricht – oder liest!
Wer liest, lernt erzählen
Tim und Struppi waren auch die ersten Helden unserer dreijährigen Tochter. Sie las die Alben, ohne lesen zu können, lachte und erzählte Geschichten. Und indem sie Geschichten erzählte, lernte sie sprechen und erzählen.
Manche Geschichten aber kann man kaum in eigenen Worten wiederholen, man muß sie lesen, am besten laut:
Heinrich von Kleist (1777–1811): Der Branntweinsäufer und die Berliner Glocken (Eine Anekdote) (1810)
Ein Soldat vom ehemaligen Regiment Lichnowsky, ein heilloser und unverbesserlicher Säufer, versprach nach unendlichen Schlägen, die er deshalb bekam, daß er seine Aufführung bessern und sich des Brannteweins enthalten wolle. Er hielt auch, in der Tat, Wort, während drei Tage: ward aber am vierten wieder besoffen in einem Rinnstein gefunden, und, von einem Unteroffizier, in Arrest gebracht. Im Verhör befragte man ihn, warum er, seines Vorsatzes uneingedenk, sich von neuem dem Laster des Trunks ergeben habe?
»Herr Hauptmann!« antwortete er; »es ist nicht meine Schuld. Ich ging in Geschäften eines Kaufmanns, mit einer Kiste Färbholz, über den Lustgarten; da läuteten vom Dom herab die Glocken: ›Pommeranzen! Pommeranzen! Pommeranzen!‹ Läut, Teufel, läut! sprach ich, und gedachte meines Vorsatzes und trank nichts. In der Königsstraße, wo ich die Kiste abgeben sollte, steh ich einen Augenblick, um mich auszuruhen, vor dem Rathaus still: da bimmelt es vom Turm herab: ›Kümmel! Kümmel! Kümmel! – Kümmel! Kümmel! Kümmel!‹ Ich sage, zum Turm: bimmle du, daß die Wolken reißen – und gedenke, mein Seel, gedenke meines Vorsatzes, ob ich gleich durstig war, und trinke nichts. Drauf führt mich der Teufel, auf dem Rückweg, über den Spittelmarkt; und da ich eben vor einer Kneipe, wo mehr denn dreißig Gäste
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