Wer liest, kommt weiter
Die Zahl der Menschen, die einen guten, klaren Text schreiben können, nimmt ab. Auch die Zahl derer, die fehlerfrei schreiben können, geht zurück. Ich sehe das in meinem beruflichen Alltag. Wir erleben eine Art Analphabetisierung.
Diese Interview-Antwort im Schweizer Wochenmagazin Die Weltwoche vom 16.8.2012 stammt nicht von einem kulturpessimistischen Feingeist, sondern von Carsten Schloter, Chef des Medienkonzerns Swisscom, der seine Milliardenumsätze den »neuen Technologien« verdankt. Um so glaubwürdiger ist seine Kritik am »dramatischen« Niedergang des Schreibenkönnens.
Solche Feststellungen hört und liest man heute oft, so in den Büchern von Mark Bauerlein (The Dumbest Generation), Nicholas Carr, Frank Schirrmacher (Payback), Susanne Gaschke (Klick, Strategien gegen die digitale Verdummung) oder Manfred Spitzer (Digitale Demenz). Und im Juli 2012 ging das Ergebnis einer Umfrage an geisteswissenschaftlichen Fakultäten deutscher Hochschulen durch die Presse:
Junge Studenten haben nach Erkenntnissen von Professoren massive Probleme mit Rechtschreibung und Grammatik. Zudem fehlten vielen Erst- und Zweitsemestern die Lesekompetenz ... ›Ein Problem ist auch die mangelnde Fähigkeit mancher Studenten, selbstständig zu formulieren und zusammenfassende Texte zu schreiben‹, beklagt Professor Gerhard Wolf von der Universität Bayreuth [der Organisator der Umfrage, F.D.]. (Focus, 23.7.12)
Wie konnte es zu dieser Misere kommen?
Daß die Orthographie heruntergekommen ist, hat mit der sog. Rechtschreibreform zu tun, auch mit den Rechtschreib-Programmen, die uns das Lernen der Orthographie abnehmen. Hauptproblem aber ist die heute übliche Art des Schreibens.
Früher schrieben wir Briefe meistens von Hand und oft mehrmals, wenn wir mit der ersten Fassung nicht zufrieden waren. Bei offiziellen Briefen benützten wir die Schreibmaschine – und da war das Schreiben noch komplizierter, weil man möglichst keine Fehler machen wollte und deshalb manche Briefe drei- oder viermal schrieb. Und bei jeder neuen Fassung verbesserten wir die vorhergehende, so gut wir es konnten.
Damals war das Schreibmaschine-Schreiben eine Kunst, die man in der Schule im Wahlfach mühsam lernen mußte. Viele haben es nie richtig gelernt und schrieben lebenslang mit zwei Fingern, wie sogar Max Frisch. Aber das hat seinen auf der Olivetti getippten Büchern nicht geschadet, im Gegenteil.
Und da wir eigene Fehler selber nicht so gut sehen können, gaben wir wichtige Briefe oft anderen zu lesen, bevor wir sie vielleicht noch einmal schrieben und dann endlich abschickten.
Heute aber muß alles sehr schnell gehen. Und es geht, dank Schreibcomputer, auch alles viel schneller. Das aber hat seinen Preis: die immer nachlässigere Schreibweise. Es beginnt bei der kleinen Schrift der meisten E-Mail-Texte. Da sieht man die Fehler ja kaum, weder die eigenen noch die der anderen! Auch weiß man im voraus, daß der Empfänger den Text in den meisten Fällen nicht ausdruckt – warum soll man sich dann besonders anstrengen? So kommt es, daß fast jeder seine E-Mails und erst recht die 160 Zeichen einer SMS mit großer Geschwindigkeit in den Computer, das Notebook oder das Smartphone tippt. Oft liest man den Text am Ende nicht mehr durch, bevor man die Sende-Taste drückt. So schreiben wir heute mehr, d.h. öfter, als früher – aber auf niedrigerem Niveau.
Und die Entwicklung geht weiter. Wenn man von seinem iPhone eine E-Mail verschickt, steht unten: »sent from my iphone«. Das ist nicht nur eine gute Werbung für Apple, sondern auch eine Erklärung für mögliche Flüchtigkeiten.
Im Internet ist es deshalb nahezu unvermeidlich, daß das Niveau der Sprache sinkt: sozusagen in Form einer Spirale nach unten. Beim Lesen von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen jedoch kommt man immer vorwärts und aufwärts: in einer Spirale nach oben – wobei es bekanntlich bergab immer schneller geht als bergauf. Warum ist das so?
Wer liest, lernt schreiben
Wie können wir die um sich greifende Schludrigkeit im Schreiben stoppen? Können wir uns wie Baron Münchhausen selber nach oben ziehen? Das ist kaum möglich – es sei denn wir lesen! Dabei gilt, was Marc Aurel am Ende des 11. Buchs seiner Selbstbetrachtungen schrieb: Im Schreiben und Lesen wirst du kein Meister sein, bevor du Lehrling warst.
Das gilt für alle, auch für angehende Schriftsteller.
Thomas Hürlimann erzählt in seinem Buch Der Sprung in den Papierkorb (2008), wie er als
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