Wer liest, kommt weiter
beisammen waren, stehe, geht es, vom Spittelturm herab: ›Anisette! Anisette! Anisette!‹ Was kostet das Glas, frag ich? Der Wirt spricht: Sechs Pfennige. Geb er her, sag ich – und was weiter aus mir geworden ist, das weiß ich nicht.«
Diese Anekdote vom Branntweinsäufer, die ich immer wieder mit Schülern gelesen habe, ist vielschichtig. Deshalb können wir auch einiges aus ihr lernen: die historischen Hintergründe (in Preußen wurden nach der Niederlage gegen Napoleon alle Regimenter aufgelöst, die Soldaten waren arbeitslos und dem Alkohol näher), einiges zur Geographie von Berlin (am Spittelmarkt stand früher der Spitalturm). Neu sind für junge Leser wohl auch Begriffe wie heillos, uneingedenk, Färbholz usw.
Dafür fällt ihnen beim Lesen vielleicht auf, wann der Branntweinsäufer wie ein gewiefter Erzähler vom Imperfekt ins Präsens wechselt, in die lebhafte Gegenwart der Erinnerung.
Auch hören sie beim lauten Lesen den Wechsel von langen und kurzen Sätzen, die Lautmalerei (Dom – Pommeranzen / bimmelt – Kümmel / Spittelturm – Anisette) und die Steigerung der Versuchung vom ersten zum zweiten Läuten, zuerst: Läut, Teufel, läut! sprach ich, und gedachte meines Vorsatzes und trank nichts. Dann: Ich sage, zum Turm: bimmle du, daß die Wolken reißen – und gedenke, mein Seel, gedenke meines Vorsatzes, ob ich gleich durstig war, und trinke nichts. Beim dritten Mal aber gibt es keine Pause mehr zwischen Glockenton und Fall: ›Anisette! Anisette! Anisette!‹ Was kostet das Glas, frag ich?
Mit Schülern kann man hier auch besprechen, wie die Sucht den Menschen beherrscht, wie der Mensch versucht, sie gegenüber anderen herunterzuspielen, und daß es eigentlich nur ein Mittel dagegen gibt, nämlich gleich am Anfang nein zu sagen.
Aber es gibt noch eine Dimension in dieser meisterhaften und nur scheinbar lustigen Anekdote des großen Dramatikers und größten Anekdotenerzählers unserer Literaturgeschichte und Vorgängers von Reiner Kunze und Thomas Hürlimann. Wenn wir die Anekdote im Unterricht lasen, fiel fast immer einem Schüler oder einer Schülerin auf, daß der Branntweinsäufer von drei Versuchungen erzählt.
Drei Versuchungen? Kleist und sein Säufer spielen hier also auf die drei Versuchungen Jesu in der Wüste an. Dort heißt es – und das kannte jeder Leser um 1800: Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, auf daß er von dem Teufel versucht würde. Und dann, mit Wechsel ins Präsens, den unser Trinker dem Evangelisten Matthäus (Kapitel 4, 5) und Martin Luther nachmacht: Da führet ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt ...
Immerhin widersteht unser Held zwei der drei Versuchungen, nur einer weniger als Jesus; das ist doch nicht übel! Noch dazu der eigentlich heftigsten Versuchung in einer Wüste: dem Durst – während Jesus bekanntlich »nur« Hunger hatte.
Die erste Versuchung findet im Berliner Lustgarten statt. Lustgarten? Das ist das deutsche Wort für Paradies, wo es die folgenreichste Versuchung der Menschheitsgeschichte gegeben hat: mit einem Apfel, lateinisch »malum« (was auch »das Böse« heißen kann), französisch »la pomme«. Und nach »pomme« heißt die bittere Apfel sine – »Pommeranze«. Nebenbei gesagt, sind die erfolgreichsten Versuchungen der Gegenwart die Produkte der Firma Apple und die dazugehörigen Apps!
Jetzt verstehen wir auch, warum der Branntweinsäufer nicht so standhaft sein kann wie Jesus. Er ist immerhin standhafter als Adam und Eva. Und deshalb kann auch der Branntweinsäufer am Anfang seiner Verteidigungsrede mit gutem Grund dasselbe sagen wie damals Adam, der Eva beschuldigte, und wie Eva, die die Schlange, also den Teufel beschuldigte: »Es ist nicht meine Schuld!«
So üben wir beim Lesen einer einzigen scheinbar harmlosen Anekdote, ohne es zu merken, Denken, Mitdenken und Nachdenken, lernen nebenbei etwas für unsere Sprache, aber auch zur Conditio humana, zur Natur des Menschen und zu seinen Lebensbedingungen. Schließlich sehen wir, wie man eine Geschichte erzählen kann, und können vielleicht auch davon etwas lernen ... Das alles in einer Anekdote, deren einmalige Lektüre nicht einmal zwei Minuten dauert, deren mehrmalige Lektüre sich jedoch immer lohnt, auch deshalb, weil man beim Lesen natürlich auch das Schreiben lernen kann.
3. Wer liest, lernt schreiben und rechtschreiben
Hat die Fähigkeit der Menschen, sich schriftlich auszudrücken, durch die neuen Technologien gelitten?
Dramatisch.
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