Wer liest, kommt weiter
Führers folgendes mit:
Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannten gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettern. ... Am heutigen Tage hat der Führer ... entschieden, dass die Antiqua-Schrift künftig als Normal-Schrift zu bezeichnen sei. Nach und nach sollen sämtliche Druckerzeugnisse auf diese Normal-Schrift umgestellt werden. Sobald dies schulbuchmässig möglich ist, wird in den Dorfschulen und Volksschulen nur mehr die Normal-Schrift gelehrt werden.
Die Begründung, es handle sich um Judenlettern, war pure Propaganda. Der wahre Grund war die Erwartung der Nazis, den Krieg zu gewinnen. Und wenn die deutsche Sprache Weltsprache würde, durfte sie keine schwer lesbare Schrift haben.
Die Folgen waren, wie bei jeder Sprach- und Schreibreform, einschneidend. Vor allem lernte die Nachkriegsgeneration die deutsche Schreibschrift nicht oder kaum mehr, weshalb ich die Briefe meiner Großmutter kaum lesen konnte und die wunderbaren Faksimiles der Briefe von Goethe oder Fontane, die Gedichthandschriften von Hölderlin, Rilke oder Trakl oder die Manuskripte Kafkas nur mit Mühe entziffern kann.
Dabei gibt es kaum etwas Schöneres als das Lesen von handgeschriebenen Texten, seien es Manuskripte, Tagebücher oder Briefe. Denn man sieht dabei nicht nur die Schrift, sondern, wenn man ihn kennt, auch den Schreibenden und erlebt beim Lesen, daß Lesen Zuhören bedeutet und ein Gespräch ist über Ort und Zeit hinweg. Davon mehr im nächsten Kapitel.
Auch wer schreibt, lernt lesen
Nachdem ich das vorige Kapitel in der ersten Fassung geschrieben hatte, las ich es noch einmal durch. Dabei fiel mir auf, daß wir jeden Text, den wir schreiben, zweimal mehr oder weniger genau lesen: beim Schreiben und danach. Beim Schreiben lesen wir jedes einzelne Wort mit, als Kinder sogar jeden Buchstaben, und kontrollieren so das Geschriebene. Wenn wir von Hand schreiben, gilt das noch mehr. Und nach dem Schreiben eines Worts, eines Satzes oder eines Textes lesen wir das Geschriebene normalerweise noch einmal, auch hier das von Hand Geschriebene eher als das am Computer Getippte. Denn beim Schreiben am Computer verlassen wir uns immer ein wenig auf das Rechtschreibprogramm.
Andere Texte schreiben wir nur, weil wir selbst sie später einmal lesen wollen: Einträge in Kalendern, Notizen, Mitschriften von Vorträgen, Exzerpte aus Büchern und vor allem ein Tagebuch. Wenn in einem Tagebuch Erlebnisse erzählt werden, lesen es auch andere gern. Mit 8. Klassen habe ich deshalb mehrmals das Tagebuch der Anne Frank (1943/44) gelesen, das in allen deutschen Schulen gelesen werden sollte und sicher gern gelesen würde, weil es auch heutige Jugendliche unmittelbar anspricht. Dies gilt auch für den Tagebuchroman Eine Hand voller Sterne (1987) von Rafik Schami. Hier der Anfang:
12.1. »Schade, daß ich nicht schreiben kann. Ich habe viel erlebt, und es war wichtig. Heute weiß ich nicht mehr, was mich vor Jahren nächtelang nicht schlafen ließ.«
»Du weißt doch eine Menge, Onkel«, tröstete ich Onkel Salim.
»Nein, mein Freund«, sagte er. »Von der Landschaft bleiben nur die Berge und später nur noch die Gipfel sichtbar, und das Ganze taucht im Nebel unter. Hätte ich schreiben gelernt, könnte ich nicht nur die Berge, Felder und Täler sehen, sondern jeden Stachel einer Rose wiedererkennen. Was für großartige Menschen sind doch diese Chinesen!« Ref 15
Ich wunderte mich, daß Onkel Salim auf einmal bei den Chinesen gelandet war. Als ich ihn deswegen fragte, erklärte er mir: »Die Chinesen haben es mit der Erfindung des Papiers möglich gemacht, daß die Kunst des Lesens und Schreibens für jedermann zugänglich wurde. Sie brachten die Schrift von den Tempeln der Gelehrten und den Palästen der Könige auf die Straße. Sie sind großartig.«
Also beschloß ich nach dem Tee bei Onkel Salim, ein Tagebuch zu führen. Ich vergesse viel. Ich weiß nicht einmal mehr den Namen der Mutter meiner ersten Freundin Samira. Mein Kopf ist wie ein Sieb.
Jeden Tag will ich schreiben!
Dieses Tagebuch eines Vierzehnjährigen, der wie Rafik Schami als Sohn eines Bäckers in Damaskus aufwächst, lasen meine vierzehn- und fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler mit Begeisterung. Es vermittelte ihnen einen Einblick in das Leben im Orient und war zugleich ein Spiegel ihrer eigenen Freuden und Leiden, die sich nicht wesentlich von denen des Schülers in Damaskus
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