Wer liest, kommt weiter
appelliert? Haben Tausende von Bürgerinnen und Bürgern umsonst Zehntausende von Protestbriefen geschrieben, und Hunderttausende bei Umfragen umsonst ihre Ablehnung der Rechtschreibreform bekundet? Und wozu der Frankfurter Appell zur Rechtschreibreform von 250 Autoren, Verlegern, Professoren und Künstlern auf der Buchmesse 2004?
Sie alle und wir alle haben getan, was wir konnten, und würden es wieder tun, um einem Eingriff in unsere Sprache zu verhindern. Das ist uns nicht gelungen, aber wir konnten einiges abwenden und abschwächen, unter anderem die Idee, daß Bücher in der bewährten Schreibung nicht mehr lesbar seien.
Was das Lesen betrifft, so hatte die Rechtschreibreform fünf gravierende Folgen: Hunderttausende von Büchern wurden aus Kinder- und Jugendbibliotheken ausgeschieden und vernichtet. Sehr viele Bücher mußten neu gesetzt werden, fast alle Kinder-, Jugend- und Schulbücher. In vielen dieser Bücher wimmelte es von Fehlern, weil es schnell gehen mußte und die »Neuregelung« so konfus war. Viele Bücher wurden nicht mehr aufgelegt, weil ein Neusatz den möglichen Gewinn einer Neuauflage aufgezehrt hätte. Die spürbarste Folge war die Erschwernis der Lektüre. Die Orthographie ist nämlich nicht für die Schreibenden, sondern für die Lesenden da. Veränderte Schreibungen springen ins Auge, behindern das Lesen und damit auch das Verstehen und mindern die mögliche Freude an der Lektüre.
Besonders ärgerlich war zudem, daß die Rechtschreibreformer so taten, als lerne man die Rechtschreibung durch Regeln. Jeder weiß, daß man sie vor allem durch Lesen lernt: Wenn man unsicher ist, schreibt man mehrere Varianten auf und versucht sich zu erinnern, wie man das schon einmal gelesen hat: Karrussell? Karrusel? Karusell? Karussell! Dies aber funktioniert seit 1996 in vielem nicht mehr – gerade dort nicht, wo die »Reform« Vereinfachungen und Erleichterungen versprochen hat.
Zum Abschluß seien 15 »Neuschreibungen« genannt, die sich die Erfinder der Rechtschreibreform zwecks »Vereinfachung« beim Umlaut »ä« ausgedacht haben, obwohl wir die meisten dieser Wörter praktisch nie schreiben: Bändel, behände, belämmert, Gämse, Gräuel, gräulich, Quäntchen, Schlägel, schnäuzen, Stängel, überschwänglich, verbläuen, aufwändig oder aufwendig, Schänke oder Schenke, Ständelwurz oder Stendelwurz!
Für das wohl zehnmal häufigere Wort »Eltern« haben Prof. Gerhard Augst und seine Mitreformer damals übrigens nicht die Schreibung Ältern vorgeschlagen, obwohl die Eltern natürlich die »Älteren« sind. Warum denn wohl nicht? Weil die Reformer zwar nicht klug, aber schlau waren und wußten, daß sie sich nicht mit den »Ältern« der Schulkinder anlegen durften, denen sie angeblich helfen wollten. Sie haben ihnen und uns und vor allem unserer gemeinsamen Sprache nur geschadet.
4. Wer liest, lernt lesen
Liebe Leserin, lieber Leser,
erlauben Sie mir, Sie hier persönlich anzusprechen: um kurz zu erklären, warum ich erst jetzt darauf eingehe, was das Lesen eigentlich ist und daß jedes Lesen mit dem Sehen beginnt.
Man könnte das Lesen in sieben Schritten beschreiben:
Zuerst sieht man die Buchstaben, zum Beispiel diese 44:
μῆλoν χρυσoῦν ἐν ὁρμίσκῳ σαρδίoυ oὕτως εἰπεῖν λóγoν.
Diesen Satz aus der griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta, können zwar alle sehen, aber nur wenige lesen. Eher ist uns die lateinische Übersetzung zugänglich, die Vulgata:
mala aurea in lectis argenteis qui loquitur verbum in tempore suo.
Das kann man sehen, lesen und hören. Es klingt gut, weil das Lateinische eine klangvolle Sprache ist. Und doch verstehen die meisten dieses Sprichwort aus dem 25. Kapitel der Sprüche Salomos nicht oder nur teilweise, weil es lateinisch ist.
Die dritte Stufe des Lesens ist die wichtigste: Wir müssen das Gemeinte hören, verstehen und dabei denken. Deshalb jetzt dasselbe in der Übersetzung von Martin Luther: Ein Wort, geredet zu rechter Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen.
Als vierte Stufe könnte man das innere Sehen bezeichnen, wenn es um Bilder oder Szenen geht. Beim ersten Teil dieses Satzes, der abstrakt ist, haben wir zunächst wohl kein Bild vor Augen, vielleicht aber eine Situation. Die goldenen Äpfel auf silberner Schale jedoch stellen wir uns vor.
Aus dem Denken und Sichvorstellen ergeben sich Emotionen, hier vielleicht eine herzliche Zustimmung.
Und wenn wir uns länger damit
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