Wer liest, kommt weiter
Rechtschreibreform, kaufte an der Tankstelle ein Handy, fuhr zur Buchmesse, verteilte mit Erlaubnis von Buchmesse-Chef Peter Weidhaas ab dem 2. Oktober unsere 2000 Flugblätter, telefonierte mit Autoren, u.a. mit dem damals 101jährigen Ernst Jünger, der mit seiner hellen Stimme rief »Mich betrifft es zwar nicht mehr, aber ich unterstütze Sie!«, organisierte kurzfristig zwei Pressekonferenzen, faxte die Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform an Zeitungen und Agenturen, und tatsächlich:
Als wir am Sonntag, dem 6. Oktober 1996, gegen Abend von der Buchmesse nach München fuhren, hörten wir im Autoradio als zweite Nachricht nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Mario Vargas Llosa die Nachricht vom Protest zahlreicher prominenter deutscher Schriftsteller und Professoren gegen die Rechtschreibreform.
Frankfurter Erklärung zur Rechtschreibreform
Nach Erscheinen des neuen Duden und nach den ersten Erfahrungen in den Schulen ist es endlich möglich, den Inhalt der vorgeschlagenen Rechtschreibreform genauer zu analysieren, ihre Folgen für die deutsche Sprache und Literatur, für den Deutschunterricht im In- und Ausland, für unsere Jugend und für uns alle zu ermessen und die ungeheuren Kosten abzuschätzen, die dieser Vorschlag, wenn er tatsächlich durchgeführt würde, verursachen wird.
In Anbetracht der schwierigen wirtschaftlichen Lage darf eine Reform, die in den meisten Punkten keineswegs notwendig ist, in vielem sogar eine Verschlechterung bedeutet und – abgesehen von der ss-Regelung – nur etwa 0,05 Prozent eines durchschnittlichen Textes betreffen würde, auf keinen Fall dazu führen, daß alle Schulbücher, die meisten Lexika, Kinder- und Jugendbücher und in der Folge auch literarische Bücher neu gedruckt (und zugleich alte verramscht oder makuliert und „entsorgt") werden müssen.
Anläßlich der Frankfurter Buchmesse 1996 bitten die unterzeichneten Germanisten, Pädagogen, Schüler und Studenten, Schriftsteller, Bibliothekare, Archivare und Historiker, Verleger, Buchhändler, Journalisten und Liebhaber der deutschen Sprache und Literatur die verantwortlichen Politiker in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz, diese von einer kleinen, weitgehend anonymen Expertengruppe vorgeschlagene Rechtschreibreform, deren Einführung Millionen von Arbeitsstunden vergeuden, jahrzehntelange Verwirrung stiften, dem Ansehen der deutschen Sprache und Literatur im In- und Ausland schaden und mehrere Milliarden DM kosten würde, die wenigen zugute kommen würden und von uns allen zu tragen wären, umgehend zu stoppen und bei der bisherigen Rechtschreibung zu bleiben.
Diese Erklärung wurde am 19. Oktober 1996 mit 450 Unterschriften in einer ganzseitigen Anzeige in der F.A.Z. veröffentlicht und in vier Wochen von fast 50 000 Lesern unterstützt, und zwar schriftlich und brieflich, nicht per Mausklick.
Eine Woche zuvor hatte der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler in derselben Zeitung die Öffentlichkeit mit den eklatanten Widersprüchen und Fehlern dieser »so genannten« Reform bekannt gemacht und die Differenzen zwischen den Wörterbüchern aufgedeckt.
Zwei Jahre wehrten sich die Bürger gegen die Kultusminister. Am 14. Juli 98 gab das Bundesverfassungsgericht gegen den begründeten Willen der großen Mehrheit einstimmig den Politikern recht. Zur Verhandlung hatte man 13 Institutionen und Vereine eingeladen, zwei reformkritische, elf reformbejahende.
Am 1. August 1999 gaben die Zeitungen nach und stellten die Schreibung um. Im Herbst 2000 kehrte die F.A.Z., in der Kurt Reumann und Thomas Steinfeld lange gekämpft hatten, zur klassischen Schreibung zurück, im Herbst 2004 auch die Printmedien des Springer-Konzerns. Die Kultusminister aber beharrten auf der Reform. Die Schulen waren der Nasenring, an dem alle Zeitungen zur »Neuschreibung« gezerrt wurden.
War also alles umsonst? Waren die Gründung der Initiative WIR gegen die Rechtschreibreform und der Aufruf zum Volksbegehren in Bayern im November 1996 überflüssig? Hat Matthias Dräger die Bücher von Theodor Ickler, Hans Krieger und Horst Haider Munske vergebens verlegt und den Volksentscheid in Schleswig-Holstein vom September 98, den ersten erfolgreichen echten, weil parteiunabhängigen Volksentscheid in Deutschland, umsonst organisiert? Haben Gabriele und Carsten Ahrens in Niedersachsen umsonst 580 000 Unterschriften gesammelt? Haben 550 Professoren umsonst ans Bundesverfassungsgericht
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