Wer liest, kommt weiter
auch Seneca, Goethe, Thomas Mann oder Max Frisch zu ihnen. Wenn wir sie lesen, können wir ihnen zuhören. Ref 17
5. Wer liest, hört und lernt zuhören
Der bedeutende Verleger Peter Suhrkamp bekundete 1947 in einem schönen Aufsatz Über das Lesen im Taschenbuch für junge Menschen seine Bewunderung für Goethe:
Ich lese Goethe; nicht, was er über dieses und jenes sagt, ist so wichtig wie, daß er, Goethe, das sagt. Ich setze mich nicht mit seinen Äußerungen auseinander, sondern ich höre ihm zu.
Wie aber kann man beim Lesen hören? Oben war vom Mailänder Bischof Ambrosius die Rede, der in Arbeitspausen Bücher gelesen und so den Geist erfrischt habe. Augustinus erwähnt bei dieser Gelegenheit aber auch, daß Ambrosius leise gelesen hat. Warum erwähnt er das? Weil es in der ganzen Antike üblich war, daß man laut las, wenn man las. Die Buchstaben sind ja »nur« ein Ersatz für die Laute, das Geschriebene wurde also als geschriebene Rede des Autors angesehen, die man dadurch verstehen konnte, daß man sie laut las und dabei hörte.
Und heute? Wir machen es uns vielleicht nicht bewußt, aber wir sprechen, wenn wir genau darauf achten und vor allem wenn wir langsam lesen, das Gelesene innerlich mit und hören es dabei: weil wir die Sprache hörend gelernt haben. Für Johann Gottfried Herder (1744–1803) war deshalb, wie er in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770) schreibt, das Ohr der erste Lehrmeister der Sprache.
Der Hörsinn ist ja auch der erste der fünf Sinne, der schon im Mutterleib gebildet und eingeübt wird. Dies hat vor allem der französische Hörforscher Alfred Tomatis in seinen viel zu wenig beachteten Büchern Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation (1987) und Das Ohr und das Leben (1995) eindrucksvoll beschrieben.
Daß das Gehör der erste und zunächst einzige Sinn ist, den wir für das Sprechenlernen und so auch für das Denkenlernen brauchen, wird in den meisten Lehrbüchern der Biologie und Psychologie übergangen. Immerhin wird bisweilen erwähnt, daß wir auch beim leisen Lesen das Gelesene hören.
So schreiben Sarah-Jayne Blakemore und Uta Frith in dem Buch Wie wir lernen: Was die Hirnforschung darüber weiß (2006):
Die Prozesse, die das Gehirn beim stillen Lesen nutzt, gleichen auf fallend den Prozessen, die auch beim lauten Lesen ablaufen . Und:
Die visuelle Form des geschriebenen Worts beschwört, zumindest bei normalen Lesern, sofort seinen Klang herauf.
Daß wir beim Lesen immer auch zuhören, gehört zum Wichtigsten, was wir über das Lesen sagen können. Wenn der Mensch als »sprechendes Lebewesen« das Sprechen fast nur durch das Hören von Sprache lernen kann, dann ist das Hören mit das Wichtigste für sein Menschsein, was auch Joachim-Ernst Berendt in seinem Buch Das dritte Ohr (1985) gezeigt hat. Das gilt für die Muttersprache wie für die Fremdsprachen, wo wir alle wissen, daß man zum Lernen »ein gutes Gehör« braucht.
Wie zentral das Hören ist, hat Martin Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) so formuliert:
Das Hören ist für das Reden konstitutiv. Und er betont, daß sich das Mitsein im Aufeinander-hören ... ausbildet.
Der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer betonte zudem die Verbindung zwischen Lesen und Hören. In seinem Vortrag Hören – Sehen – Lesen sagte er 1982, daß es, wenn wir von Hören und Sehen in bezug auf das Lesen sprechen, nicht darum [geht], daß man sehen muß, um Schrift entziffern zu können, sondern es geht darum, daß man hören muß, was Schrift sagt. Hören können heißt verstehen können.
Das bedeutet natürlich nicht, daß wir, wenn wir etwas hören, auch wirklich zuhören und verstehen wollen. Doch wenn wir etwas lesen, müssen wir immer »aufpassen« und zuhören. Und wenn es ein gutes Buch oder ein interessanter Zeitungsartikel ist, lesen wir ja gern. Deshalb können wir auch beim Lesen das Zuhören besonders gut lernen.
Dies soll jetzt am ersten Satz des Felix Krull (1954) von Thomas Mann und an den sechs ersten Sätzen des erfolgreichsten, in der Schule noch heute meistgelesenen Romans von Max Frisch illustriert werden, an Homo Faber (1957). Ref 18
Wer liest, hört zu
Der erste Satz eines Textes ist immer von besonderer Bedeutung, auch weil er mit darüber entscheidet, ob wir weiterlesen:
Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so daß ich wohl nur in kleinen Etappen und unter
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