Wer liest, kommt weiter
unterschieden. Einen wesentlichen Unterschied zwischen ihrem Leben und dem Leben eines Jugendlichen im Orient gab und gibt es jedoch, den Napoleon am 2. Oktober 1808 gegenüber Goethe so formuliert hat: Was will man jetzt mit dem Schicksal? Die Politik ist das Schicksal.
Mehrmals sprachen wir auch darüber, wie bedeutsam es für den jungen Syrer war und auch für uns sein könnte, ein Tagebuch zu führen, nicht nur weil man dann weniger vergißt, sondern auch weil man dabei das Lesen und das Schreiben übt.
Ob dann der eine oder die andere ein Tagebuch zu schreiben begonnen hat, weiß ich nicht. Ich wollte nicht neugierig sein. Doch ich hoffe und glaube auch, daß es einige getan haben. Denn es gibt vermutlich kaum eine bessere Möglichkeit der Selbsterkenntnis als das Schreiben eines Tagebuchs.
Und noch etwas könnte man beim Tagebuchschreiben lernen: das langsame Schreiben und das langsame und nachdenkliche Lesen. Das schnelle Lesen ist nämlich zweischneidig.
Wer schnell liest, versteht weniger
Seit etwa 50 Jahren gibt es Bücher, die in ihrem Titel versprechen: Schneller lesen – besser lesen, Effektiver lesen, Optimales Lesen . Und seit 2011 gibt es die »Application« »Speed Reading«, »Schneller lesen«, die in kurzer Zeit unter den etwa 500 000 »Apps« eine der erfolgreichsten geworden ist.
Warum? Weil wir heute mit immer mehr Texten konfrontiert werden, die wir lesen sollen. Da möchte man gern schnell vorankommen. Und natürlich kann man nicht alles lesen. Man liest also nur Teile. Auch das ist ein geistiges Training. Und immer gilt: Wer liest, lernt lesen, und wer viel liest, lernt besser lesen und auch etwas schneller lesen und denken. Doch wer zu schnell liest, versteht nur einen Teil, etwa so wie bei einer DVD, die man zu schnell abspielt.
Was hätte Goethe wohl über die Idee gesagt, mit einem Kurs (cursus heißt lateinisch: das Rennen) das Lesen beschleunigen zu wollen? Sein Sekretär Eckermann schrieb am 25.1.1830:
Er scherzte darauf über die Schwierigkeit des Lesens und den Dünkel vieler Leute, die ohne alle Vorstudien und vorbereitenden Kenntnisse sogleich jedes philosophische und wissenschaftliche Werk lesen möchten, als wenn es eben nichts weiter als ein Roman wäre. »Die guten Leutchen«, fuhr er fort, »wissen nicht, was es einem für Zeit und Mühe gekostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre.«
Goethe war ein Verteidiger des natürlichen Wachstums. Am 6.6.1825 schrieb er an den Komponisten Carl Friedrich Zelter über die Schnelligkeit und das Wort »ultra« (darüber hinaus):
... alles, mein Teuerster, ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht sein; einfältiges Zeug gibt es genug.
Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht...
Diese und ähnliche Zitate finden sich in Manfred Ostens Buch Goethes Entdeckung der Langsamkeit (2004). Mit den Fazilitäten der Kommunikation meinte Goethe übrigens vermutlich die optische Telegraphie, von der Napoleon bei seinen Feldzügen profitiert hatte. Was hätte er zu den heutigen Kommunikationsmitteln gesagt und zu der viel zu frühen Aufgeregtheit heutiger Kinder? Vermutlich hätte er Paul Virilio zugestimmt, der seit mehr als 30 Jahren die Beschleunigung unseres Lebens analysiert, zum Beispiel in dem Buch Rasender Stillstand (1992).
Zum Glück gibt es Gegenbewegungen. Das Essen ist am bekömmlichsten, wenn wir langsam essen. Könnte nicht auch das langsame Lesen manchmal das klügere Lesen sein?
Halten wir uns also beim Essen wie beim Lesen an Sten Nadolnys Roman von 1983 Die Entdeckung der Langsamkeit:
John Franklin war schon zehn Jahre alt und noch immer so langsam, daß er keinen Ball fangen konnte. Er hielt für die anderen die Schnur. Vom tiefsten Ast des Baums reichte sie herüber bis in seine emporgestreckte Hand. Er hielt sie so gut wie der Baum, er senkte den Arm nicht vor dem Ende des Spiels. Als Schnurhalter war er geeignet wie kein anderes Kind in Spilsby oder sogar in Lincolnshire. Aus dem Fenster des
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