Wer liest, kommt weiter
wartete wie wir alle und einfach im Sessel saß, ein Blonder mit rosiger Haut, der sich sofort vorstellte, noch bevor man die Gürtel geschnallt hatte.
Einen solchen Satz lese ich mit offenem Mund – vor Bewunderung. Wie Max Frisch das macht! Wie er die 40 Minuten in einen atemlosen Satz hineinpackt und unseren Blick aus dem Fenster auf das Schneegestöber und dann auf die katastrophale Schlagzeile lenkt, von der sich Faber angeblich nicht nervös machen läßt, während er sich als Schweizer über diesen seltsamen Deutschen aufregt, der uns jetzt auch merkwürdig vorkommt – und dann spüren auch wir das Brummen der Motoren.
5) Seinen Namen hatte ich überhört, die Motoren dröhnten, einer nach dem andern auf Vollgasprobe –
Dieser Satz richtet sich vor allem an unsere Ohren, sogar das Wort überhört dröhnt wie die Motoren auf Vollgasprobe.
6) Ich war todmüde.
Der sechste Satz, wieder sehr kurz, aber prophetisch. Der Tod ist des Schlafes Bruder, also auch umgekehrt. Und wer schon einmal so weit geflogen ist, kennt diese Müdigkeit. Aber als Leser sind wir jetzt hellwach und gern bereit, mit Walter Faber, mit dem jungen Deutschen und mit Max Frisch auf die Reise zu gehen: wir als Zuhörer und Faber-Frisch als Erzähler.
Wer laut liest, liest noch intensiver
Daß man beim Lesen zuhören muß, merken wir beim Vorlesen. In der Antike wurde, wie gesagt, immer laut gelesen. Aber auch heute wird in Synagogen und Kirchen, in Schulen und Universitäten vorgelesen, auch im Radio und Fernsehen, freilich mit der Besonderheit, daß bei Radionachrichten kaum mehr als fünf Sätze pro Nachricht vorgesehen sind – und im Fernsehen nach wenigen Sätzen die bewegten Bilder oder die Kamerabewegungen uns vom Gehörten abzulenken beginnen.
Obwohl das Vorlesen seltener geworden ist, gab es in den letzten Jahren mehrere Romane zu diesem Thema.
Der bekannteste ist Bernhard Schlinks politisch-erotischer Weltbestseller Der Vorleser (1995), den sich manche meiner Schüler, die sonst wenig lasen, als Schullektüre wünschten. Die Idee, so wie der 15jährige Michael Berg einer attraktiven 36jährigen Bücher vorzulesen, die man ohnehin für die Schule lesen muß, ist auch durchaus verlockend. Es ist freilich nicht anzunehmen, daß unsere Schüler nach der Lektüre dieses Buches mehr Bücher lesen werden, um Frauenherzen zu gewinnen – obwohl das eine erfolgversprechende Methode sein könnte, nicht nur bei Analphabetinnen wie Hanna Schmitz. Bekanntlich werden die Männer gern vom Aussehen einer Frau, also visuell »angesprochen«, Frauen jedoch eher von der Stimme und von dem, was ein Mann sagt und wie er es sagt. Der junge Johann in Martin Walsers Entwicklungsroman Ein Springender Brunnen ist wohl auch deshalb bei den Mädchen Magda und Lena so erfolgreich, weil er so gut sprechen kann. Ähnliches gilt auch für Johann Heinrich Faust und Gretchen und für Johannes und Cordelia im Tagebuch des Verführers von Soren Kierkegaard und für das Vorbild aller Verführer: für Don Juan.
Zweitens sei Das Labyrinth der Wörter (2010) von Marie-Sabine Roger erwähnt. Im Film schien es glaubwürdig, wenn man aber das Buch liest, fragt man sich, ob ein Hilfsarbeiter mit einer so groben Sprache plötzlich Bücher lesen möchte.
Das dritte Buch ist Johano Strassers Roman Die schönste Zeides Lebens (2011) . Das ist natürlich die Jugend, vor allem die Zeit nach dem Abitur. Aber Robert Markmann hat es nicht so einfach wie der Held in seinem Lieblingsbuch, der die Mühle seines Vaters verläßt, als der ihn als Taugenichts beschimpft.
Auch Robert hat einen ewig schimpfenden Vater, der Frühinvalide ist und die Liebe seiner attraktiven Frau verloren hat. Und auch er weiß noch nicht, was er werden soll. Zunächst ist er »Zivi« und kümmert sich unter anderem um Frau Sternheim, die inmitten von Büchern lebt, aber immer schlechter lesen kann. Also bittet sie ihn, ihr etwas vorzulesen:
Nun, was ist, junger Mann? Haben Sie etwas Passendes gefunden?
Er steht vor dem zur hohen Decke hinaufreichenden Bücherregal und lässt seine Augen wieder über die Buchrücken gleiten: Mario Soldati, Briefe aus Capri neben Selma Lagerlöf, Aus meinen Kindertagen und daneben ohne erkennbare Ordnung Bruno Schulz, Die Zimtläden, Gustave Flaubert, Die Erziehung des Herzens, Rudolf Borchardt, Der leidenschaftliche Gärtner, dann ein Band mit der Aufschrift Unser Goethe ...
Unschlüssig nimmt er den Band Goethe zur Hand, schlägt das Inhaltsverzeichnis auf,
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