Wer liest, kommt weiter
glücklich macht, auch selber glücklicher wird.
Dies ist auch die Wirkung mancher Gespräche.
6. Wer liest, führt ein Gespräch
Wozu hat der Mensch die Sprache? Um anderen Menschen zuzuhören und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Friedrich Hölderlin sagt dies in seiner Hymne Andenken (1803) so:
... Doch gut
Ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu hören viel
Von Tagen der Lieb’,
Und Taten, welche geschehen.
In guten Gesprächen hören und erzählen wir Erlebnisse oder wollen des Herzens Meinung hören und sagen.
Auch Martin Buber hielt in seinem Buch Ich und Du (1923) die Aufrichtigkeit für das Wichtigste in einem Gespräch. Beim echten Gespräch sind wir beim Hören wie beim Sprechen ganz da. Manchmal höre ich fast nur zu. Und wenn ich spreche, spreche ich, so gut ich kann, d.h. auf dem mir möglichen Niveau. Und wenn der andere oder die andere anders spricht als ich und anderes weiß oder eine andere Meinung hat als ich – um so besser! Dann und nur dann besteht die Möglichkeit, daß ich etwas dazulerne. Gerade deshalb ist die Lektüre von Büchern so bereichernd, weil ich anderes höre, als ich erwarte.
»Was ist herrlicher als Gold?« fragte der König. – »Das Licht«, antwortete die Schlange. – »Was ist erquicklicher als Licht?« fragte jener. – »Das Gespräch«, antwortete diese.
So heißt es in Goethes Märchen, veröffentlicht 1795 in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Heute findet Unterhaltung vor allem in visuellen Medien statt, man unterhält sich seltener miteinander, sondern läßt sich unterhalten, was Geld und Zeit kostet, aber einfacher ist – oder nur scheint. Denn ein unterhaltsames Gespräch ist nicht schwer. Wir brauchen nur den anderen zu fragen, was er erlebt hat, dann ergibt sich leicht ein Gespräch, bei dem auch wir etwas erzählen können.
Und wenn wir allein sind, können wir lesen und uns beim Lesen unterhalten. Können wir auch aus den Dialogen in Büchern etwas lernen? Oft können wir sehen und hören, wie man es nicht machen sollte, wie Menschen aneinander vorbeireden oder in Streit geraten. In Fontanes Romanen wiederum bewundern wir, wie aufmerksam Menschen miteinander sprechen.
Wie aber können wir beim Lesen eines Buches oder eines Zeitungsartikels mit dem Autor ins Gespräch kommen?
Bei Zeitungsartikeln, vor allem bei Kommentaren, ist es klar, daß der Journalist den Kommentar für uns schreibt, die wir ihn lesen und dabei hören. Wir antworten, indem wir uns eine eigene Meinung bilden, vielleicht auch einen Leserbrief schreiben.
Aber auch bei literarischen Texten hören wir, indem wir sie leise oder laut lesen, in unserer Stimme auch die Stimme des Autors. Dies ist ganz deutlich in Erzählungen und Romanen, an deren Anfang ein Ich spricht:
Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt ... (Goethe, Die Leiden des jungen Werther, 1774)
Sie haben mir eine Strafarbeit gegeben. (Siegfried Lenz, Deutschstunde, 1968)
»Wäre ich ein Mädchen, ich würde mich auf der Stelle in dich verlieben.« (Hansjörg Schertenleib, Cowboysommer, 2010)
Ich betrete das Treppenhaus durch eine unscheinbare Seitentür ... (Albert von Schirnding, Vorläufige Ankunft, 2010).
Besonders auffällig spricht ein Ich in Christoph Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes (2012). Denn alle 70 Episoden dieses Buches beginnen mit den Worten »Ich sah ...« Und dann erinnert sich der Erzähler an Begegnungen mit Menschen und Landschaften, aber auch mit Tieren und lädt uns zum Zusehen und Zuhören ein. Ref 23
Dank diesem Ich ergibt sich automatisch ein Gespräch zwischen Erzähler und Leser. Manchmal ist das weniger offenbar. Hier der Anfang des 1995 erschienenen Romans Plötzlich ist es Abend von Petra Morsbach, in dem das Leben einer Sowjetbürgerin zwischen 1950 und 1991 erzählt wird:
Ljusja ist vierundzwanzig Jahre alt, hat ein uneheliches Kind und arbeitet in der Kugellagerfabrik »Fortschritt«; das heißt, in diesem Augenblick sitzt sie in ihrem Zimmerchen in einer kommunalen Wohnung auf der Petrograder Seite und träumt von der Liebe.
Schon im ersten Satz kommt uns die alleinerziehende, von einer neuen Liebe träumende Ludmilla nahe, vielleicht auch weil wir bei den Worten das heißt spüren, daß uns jemand diese Geschichte erzählt und uns in diesem Augenblick in dieses Zimmerchen einlädt und hinzufügt: Wir sind in Leningrad, im Februar des Jahres neunzehnhundertfünfzig. Jetzt
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