Wer liest, kommt weiter
ganz Ohr.
8. Wer liest, lernt den Sprachklang hören
In Kapitel 5 wurde das Hören als Verstehen beschrieben. Die Sprache hat aber auch Klang und Rhythmus, was hier an drei bekannten Gedichten gezeigt werden soll.
Der Klang der Sprache
Georg Trakl (1887–1914): Ein Winterabend (1912)
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
In Versen ist die Musikalität im Klang der Vokale und Konsonanten hörbar und, wenn sie gereimt sind, auch in den Reimen:
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
(im ersten Vers sechs E-Laute und in der Mitte das A)
Lang die Abendglocke läutet,
(im zweiten Vers A und O und L wie Glockenklang)
Vielen ist der Tisch bereitet
(im dritten Vers I und E)
Und das Haus ist wohlbestellt.
(Schließlich der Wohlklang aller Vokale)
Das Gedicht beschreibt den Weg eines Menschen aus dem Dunkel ins Licht: Wenn der erste Schnee fällt, werden die Häuser für Weihnachten vorbereitet, auch das Haus Gottes, die Kirche, wo vielen der Tisch bereitet ist (am Abendmahlstisch reicht Jesus den Jüngern den Wein mit den Worten: »Dies ist mein Blut, das für viele vergossen wird«, Mk 14,24). (Strophe 1)
Mancher auf der Wanderschaft kehrt im Dezember wie der verlorene Sohn auf dunklen Pfaden zurück in die Heimat und sieht den Christ baum , der golden strahlt und blüht. (Str. 2)
Doch die Reue tut weh, man hört es im »sch«, im »e« und im »i«: Schmerz versteinerte die Schwelle . Doch dieser vergeht im Anblick von Brot und Wein, daher die Vergangenheitsform »verstéinertè «, wobei die letzte Silbe leicht betont ist. (Str. 3)
Zum Vergleich das wohl bekannteste Gedicht von Friedrich Nietzsche, der damals an seinem Zarathustra schrieb:
Friedrich Nietzsche (1844–1900): Vereinsamt (1884)
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?
Die Welt ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.
Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüsten-Vogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein –
Weh dem, der keine Heimat hat!
In den ersten Versen wird dreifach vor dem Winter gewarnt: Man hört die Krähen schrein, sieht sie zur Stadt fliegen und riecht und spürt schon den Schnee. Aus dem Fazit Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat ergibt sich ein Selbstgespräch.
Das Ich beschimpft sich zweimal als »du Narr«, und als Pastorensohn kennt Nietzsche die Bergpredigt: Wer zu seinem Bruder sagt: »Du Narr!«, ist des höllischen Feuers schuldig. (Mt 5,22) Warum Narr? Weil er vor dem Winter aus der Heimat geflohen ist (Str. 2), in eine Wüsten-Welt (Str. 3), sich zur Winter-Wanderschaft verflucht hat (Str. 4) und sein heimwehkrankes Herz verhöhnt (Str. 5).
Und dann die Schreckensklage: Weh dem, der keine Heimat hat! Was ist hier Heimat? Die Stadt mit ihren Bürgerhäusern und Kirchtürmen, zu der die Krähen sich flüchten? Das dumpfe deutsche Stubenglück, das Nietzsche in zwei späteren Antwort -Strophen zu diesem Gedicht verhöhnt? Der traditionelle Glaube?
Die Schärfe der Selbstvorwürfe wird erhöht durch die Intensität der Bilder und Klänge, hier vor allem in den Stabreimen: vereinsamt, Flug, entflohn, verlor, verflucht usw.; oder: Welt, Wüsten, Winter-Wanderschaft, Wüstenvogel; oder: schrein, schwirren, Stadt, schnein, stehst, starr, schaust, schon, stumm, schnarr ...
Bei Nietzsche geht einer trotzig auf Winter-Wanderschaft. Bei Trakl kehrt einer von einer Wanderschaft ... auf dunklen Pfaden reuevoll zurück. So kann Trakls Winterabend als geheimnisvolle Antwort auf Nietzsches Vereinsamt gelesen werden.
Der Rhythmus der Sprache
Freundschaften beruhen oft auf Gemeinsamkeiten: Gefährten gehen miteinander auf »Fahrt« und auf Wanderschaft, Genossen »genießen«
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