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Wer liest, kommt weiter

Wer liest, kommt weiter

Titel: Wer liest, kommt weiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Denk
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sind wir ganz dabei. Und dann geht’s los, und wir hören es: Es klingelt.
    Im folgenden Text gibt es scheinbar keinen Erzähler. Es ist die erste Szene aus Paare Passanten (1981) von Botho Strauß:
Ein Mann in einem grauen, zu kurzen Anzug, der im Restaurant allein am Tisch sitzt, ruft plötzlich »Psst!« in die dahinplappernde Menge der Gäste, so laut, daß alle, nachdem er dies zwei Mal wiederholt hat, zu seinem Tisch hinblicken und das Stimmengewoge stockt, beinahe versickert und nach einem letzten, kräftigen »Psst!« des Mannes endlich einer Totenstille weicht. Der Mann hebt den Finger und sieht horchend zur Seite und alle anderen horchen mit ihm still zur Seite. Dann schüttelt der Mann den Kopf: nein, es war nichts. Die Gäste rühren sich wieder, sie lachen albern und uzen den Mann, der sie zu hören ermahnte und die gemischteste Gesellschaft in eine einträchtig hörende Schar verwandelt hatte, wenn auch nur für Sekunden. Ref 24
    Wenn wir dies aufmerksam lesen, merken wir, daß wir auch hier jemandem zuhören. Wer weiß denn, daß der graue Anzug des Mannes zu kurz ist? Nur der Erzähler, also Botho Strauß, kann das wissen. Er selbst hat diese Szene gesehen oder sich ausgedacht und aufgeschrieben, in der Erwartung, daß andere diese Geschichte lesen und dabei hören und sehen.
    So führen wir, wenn wir lesen, immer ein Gespräch mit dem Autor, aber auch mit seinen Gestalten.
    Martin Walser fand dazu in einer Rede in Bergen-Enkheim 1977 folgenden Vergleich:
Wird also die Seele oder das Bewußtsein beim Lesen aktiver als beim Filmanschauen? Ja, weil das Geschriebene unfertig ist und von jedem Leser erst zum Leben erweckt und dadurch vollendet werden muß; kein bißchen anders als die Notenschrift des Komponisten durch den Sänger, den Pianisten und so weiter. Der Leser ist vergleichbar eher dem, der musiziert, als dem, der Musik hört.
    Was für ein schmeichelhaftes Lob, das zwar stark übertrieben ist – denn unfertig sind weder die Werke von Petra Morsbach noch von Botho Strauß noch von Martin Walser –, doch wir nehmen es gern als Ermutigung und als Einladung zum Gespräch mit den Autorinnen und Autoren, wohl wissend, daß wir, wenn wir ein Buch lesen, zur großen Gemeinschaft derer gehören, die vor uns das Buch gelesen haben, und derer, die es nach uns lesen werden.
    Aber damit ein Dialog zwischen uns, die wir lesen, und dem Autor bzw. der Autorin zustande kommt, wollen wir uns doch bemühen, das Buch möglichst so zu lesen, wie es gemeint war. Doch je besser ein Buch ist, desto öfter geschieht, was Marie von Ebner-Eschenbach in einem ihrer Aphorismen sagte (die hier jeweils nach der Reclam-Ausgabe zitiert sind):
    In einem guten Buche stehen mehr Wahrheiten, als sein Verfasser hineinzuschreiben meinte.
    Warum ist das so? Weil wir beim Lesen geistig fast immer hellwach sind, mitdenken, nachdenken und selber denken und dabei manches Neue finden. Aber auch unsere Sinne werden beim Lesen angeregt und gefördert, vor allem das Sehen und das Hören. Darum geht es im zweiten Teil dieses Buches.
    Doch zuvor noch ein erstes Fazit. Ref 25

7. Erstes Fazit mit Friedrich Schiller
    Was unterscheidet Gedanken, haben wir uns oben gefragt, von gesprochenen und geschriebenen Worten? Ein Gedanke ist unhörbar, unsichtbar und flüchtig. Wenn wir ihn aussprechen, wird er hörbar; und wenn wir ihn aufschreiben, außerdem »körperlich« sichtbar und haltbar. So kann ein zunächst stummer Gedanke in der Schrift Jahrhunderte überdauern.
    Friedrich Schiller (1759–1805) sagte das in seiner Elegie Der Spaziergang (1795) in einem einzigen Doppelvers so:
Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken, Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.
    Dieses Distichon, das seit 1916 am Portal der Deutschen Bücherei in Leipzig zu lesen ist, meinte ursprünglich den Buchdruck, durch den die Gedanken dauerhaft fixiert werden:
Körper und Stimme leiht dem stummen Gedanken die Presse ...
    Wo aber bleibt der Leser? Schiller spricht hier nur vom Autor, also dem »Sender«, und seiner »Botschaft«, die im »Medium« Schrift auf dem Blatt eines Buches, einer Zeitschrift oder einer Zeitung den Strom der Jahrhunderte überdauern kann.
    Vom »Empfänger«, dem Leser, braucht Schiller nicht zu sprechen. Aber wir Leser sind gemeint. Wir lesen und sehen die in den Buchstaben verkörperten Gedanken des Autors, hören seine Stimme und Rede, übersetzen sie in Gedanken und sehen schließlich vor unserem

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