Wer liest, kommt weiter
geistigen Auge das Bild des Zeitstroms, auf dem das redende Blatt Papier mit den Gedanken und Worten und Bildern des Autors dahinsegelt und von uns immer wieder neu angehalten, gelesen, gehört und neu gedacht werden kann. Indem wir lesen, sind wir also in höchster geistiger und sprachlicher Aktivität und machen dabei, ohne es zu bemerken, in unseren sprachlichen und geistigen Möglichkeiten Fortschritte, die wir anders nicht machen könnten.
Doch der Mensch kann und will nicht immer nur denken.
Wer liest, verfeinert auch seine Sinne
Bei guten Freunden bedauern wir manchmal, daß wir ihnen nicht schon früher begegnet sind. Das kann auch bei Büchern so sein, obwohl wir uns doch freuen sollten, daß wir sie überhaupt entdeckt haben. Hermann Hesse (1877–1962) zum Beispiel galt in der Germanistik nicht viel, weshalb ich ihn lange übersehen habe. Erst als eine kluge Freundin uns von ihm erzählte, begann ich Hesse zu lesen, zuerst Knulp (1915).
Knulp ist ein Landstreicher, ein Homo viator, der am Ende seines Lebens noch einmal in seinen Heimatort Gerbersau – gemeint ist Calw – zurückkehrt, wo er vor Jahrzehnten die Lateinschule verlassen hat, um einem Mädchen zu imponieren:
Noch einmal kostete der Heimgekehrte das Licht und den Duft, die Geräusche und Gerüche der Heimat und die ganze erregende und sättigende Vertrautheit des Daheimseins: Gewühl der Bauern und Bürger auf dem Viehmarkt, durchsonnte Schatten brauner Kastanienbäume, Trauerflug dunkler Herbstfalter an der Stadtmauer, Klang des vierstrahligen Marktbrunnens, Weingeruch und hohles hölzernes Gehämmer aus der gewölbten Kellereinfahrt des Küfermeisters [...].
Mit allen Sinnen schlürfte der Heimatlose den vielfältigen Zauber des Zuhauseseins, des Kennens, des Wissens, des Sicherinnerns, der Kameradschaft mit jeder Straßenecke und jedem Prellstein. [...] Am Flusse stand er lange und lehnte an der hölzernen Brüstung überm ziehenden Wasser, worin das dunkle Seegras langhaarig wallte und die schmalen Rücken der Fische schwarz und stille über den zitternden Kieseln standen. Er ging über den alten Steg und ließ sich in der Mitte in die Kniekehlen sinken, um wie als Knabe den feinen, lebendig elastischen Gegenschwung des Brückleins in sich zu spüren.
Ref 26
Mit allen Sinnen schlürft Knulp, dieser melancholische Enkel des romantischen Taugenichts, das Licht und den Duft, die Geräusche und Gerüche der Kleinstadt in sich auf und spürt am Ende sogar noch mit Bauch und Beinen das Holz der Brükke über die Nagold. Solche Schilderungen können auch unsere Wahrnehmungen verfeinern, weil wir sie in Zukunft vielleicht ein wenig besser beschreiben können als bisher. Das gilt vor allem für die zwei wichtigsten Sinne: das Hören und das Sehen.
In den bisherigen Kapiteln ging es darum, wie das Lesen unsere geistigen Fähigkeiten »trainiert«: das Denken, das Hören von Sprache, das Sprechen, das Schreiben, das Gedächtnis und natürlich das Lesen selbst.
Nun geht es um die »sinnlichen« Fähigkeiten: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Diese fünf Sinne hat Aristoteles in seiner Schrift Über die Seele (Perì psychēs, De anima) als erster beschrieben. Seither wird in allen Büchern das Sehen als erster Sinn genannt. Es ist insofern auch der wichtigste Sinn, weil es, es sei denn wir schließen die Augen oder im Stockdunklen, immer etwas zu sehen gibt, nicht immer aber etwas zu hören, erst recht nicht zu riechen, zu schmecken und zu tasten. Auch ist das Sehen im Gegensatz zum Hören (und Riechen) ein aktiver Sinn: Wir können auswählen, was wir sehen wollen.
Schließlich gibt es beim Sehen noch mehr Möglichkeiten als beim Hören. Wir können Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Kunst und menschengemachte Gegenstände sehen und dabei auf vier Besonderheiten achten: die Formen, die Farben, den Raum und die Bewegung. Diese vier Seh-Aufgaben werden im Gehirn an verschiedenen Stellen bearbeitet, weshalb der Sehsinn auch den meisten Platz im Gehirn beansprucht.
Doch das Hören ist für den Menschen noch zentraler, weil er die Sprache, die ihn zum Menschen macht, nur als Hörender (und Denkender und Lesender) lernt und versteht. Wir können auch Musik, Tierstimmen und Geräusche hören, das Wichtigste aber sind die an uns gerichteten Worte. Dazu paßt sehr schön eine Redewendung, die Barbara König (1925–2011) 1971 für ein Hörspiel und Ludwig Steinherr 2012 für einen Gedichtband zum Titel gewählt hat: Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher