Wer liest, kommt weiter
miteinander wie Kumpane das Brot (lat. panis, dazu: cumpanio, frz. compagnon), Kameraden schlafen in derselben »Kammer«, Gesellen (althochdeutsch »Gisaljon«) im selben »Saal«. Eichendorffs Gedicht Die zwei Gesellen trifft heute vielleicht noch mehr als 1818, als es unter dem Titel Frühlingsfahrt erschien, die Situation mancher Jugendlicher.
Joseph v. Eichendorff (1788-1857): Die zwei Gesellen
Es zogen zwei rüst’ge Gesellen
Zum ersten Mal von Haus,
So jubelnd recht in die hellen,
Klingenden, singenden Wellen
Des vollen Frühlings hinaus.
Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten trotz Lust und Schmerz,
Was Recht’s in der Welt vollbringen,
Und wem sie vorübergingen,
Dem lachten Sinnen und Herz. –
Der erste, der fand ein Liebchen,
Die Schwieger kauft’ Hof und Haus;
Der wiegte gar bald ein Bübchen,
Und sah aus heimlichem Stübchen
Behaglich ins Feld hinaus.
Dem zweiten sangen und logen
Die tausend Stimmen im Grund,
Verlockend’ Sirenen, und zogen
Ihn in der buhlenden Wogen
Farbig klingenden Schlund.
Und wie er auftaucht vom Schlunde,
Da war er müde und alt,
Sein Schifflein das lag im Grunde,
So still war’s rings in die Runde,
Und über die Wasser weht’s kalt.
Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir;
Und seh ich so kecke Gesellen,
Die Tränen im Auge mir schwellen –
Ach Gott, führ uns liebreich zu Dir!
Wie hoffnungsfroh ziehen die beiden in die Welt. Man hört es am klingenden, singenden Dreivierteltakt-Rhythmus. Nur der zweite Vers, der einzige rein jambische, ist langsam, zögernd – auf der Schwelle vor dem Schritt in den Ernst des Lebens.
Der eine hat Glück, heiratet, kommt dank Schwiegermutter zu einem Hof. Das erste Kind: ein Bub! Was will man mehr? Er selbst wollte mehr – als sich ins gemachte Nest setzen! Die Welt, die er hatte erobern wollen, sieht er nur noch vom Sessel aus. Er ist ein Kleingeist geworden, was im Reim hörbar ist: Liebchen, Bübchen, Stübchen! Und der Rhythmus der fünf ihn betreffenden Verse ist viermal erst schnell, dann gebremst.
Der zweite Geselle, dem Wanderer bei Nietzsche und Trakl verwandt, erlebt Abenteuer in Fülle. Das hört man auch an den dunklen Vokalen im Reim und am Rhythmus »seiner« Verse, die zum Ende hin schneller werden. Und nach den kurzen Sätzen der dritten Strophe folgt in der vierten ein einziger langer, den Atem raubender Satz, in dem dieser Geselle verlockenden Sirenen begegnet, die ihn in der buhlenden Wogen farbig klingenden Schlund hinabziehen: mit Bildern, Klängen und Händen.
So scheitern beide, obwohl sie was Rechtes wollten. Nietzsche endet mit der Weh -Klage des Heimatlosen, Eichendorff in einem Vers, in dem fast alle Silben betont sind, mit dem Ach der Sehnsucht nach der himmlischen Heimat, wo »Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.« (Offenbarung 7,17)
Wer Noten liest, lernt hören und – genau lesen
Vor fast 3000 Jahren übernahmen die Griechen von den Phöniziern die Buchstabenschrift und erweiterten sie um Buchstaben für die Vokale, was eine beispiellose literarische und kulturelle Tradition möglich machte.
Die geniale Erfindung der Notenschrift vor fast 1000 Jahren durch Guido von Arezzo ermöglichte die Entwicklung der mehrstimmigen Musik und – was für unser Thema wichtig ist – das Selbststudium beim Musizieren.
Hier die ersten vier Noten von drei bekannten Musikstücken:
Es handelt sich, manche erkennen das gleich, um die Anfänge von Händels Halleluja (1742), Beethovens 5. Symphonie (1808) und Stille Nacht, heilige Nacht (1818). Warum kann man diese Musikstücke schon nach vier Noten erkennen? Nehmen wir als Beispiel das Weihnachtslied von Franz Gruber, das einen Umfang von 18 Noten hat, nämlich elf ganzen und sieben halben zwischen dem tiefen H und dem hohen E. Wenn man unter diesen 18 Noten auswählen kann, hat man bei vier Noten 104 976 Möglichkeiten. Wenn wir noch fünf Tonlängen dazu nähmen – Ganze, Halbe, Viertel, Achtel, Sechzehntel –, gäbe es mehr als 100 Millionen Möglichkeiten, freilich würde man den Anfang von Stille Nacht auch mit einem etwas anderen Rhythmus noch erkennen.
Allerdings sind die schönsten Melodien oft schon gefunden worden, weshalb Komponisten, die etwas Neues finden wollen, möglicherweise in weniger wohlklingende ausweichen müssen. Da haben es die Dichter und Journalisten besser, weil es in jeder Zeit neue Situationen und Probleme und neue Stoffe gibt.
Das Lesen jedoch
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