Wer liest, kommt weiter
und die Frauenherzen . Wenn wir ihre Namen aber nicht wissen, dann bemerken wir diese Pflanzen vielleicht gar nicht, jedenfalls sehen wir sie anders.
Besonders schmerzlich empfinde ich persönlich dieses Gefühl des Nichtkennens bei Bergen. Erst wenn ich ihre Namen kenne, kann ich sie richtig bewundern.
Beim Namensuchen kann uns neuerdings auch das Internet helfen, und wenn wir unterwegs sind, das Handy. Aber anders als in einem Buch, einem Magazin oder der Reisebeilage einer Zeitung erfahren wir die Namen nicht im Zusammenhang. Und das Display eines Smartphones ist und bleibt sehr viel kleiner als eine Landkarte, die zu lesen übrigens auch eine geistige Tätigkeit ist, während man durch die ständige Benützung des »Navis« allmählich sein Orientierungsvermögen verliert. Und manchmal klingen die Namen der Berge fast wie Poesie:
Bald kannten wir die Namen der Geislerspitzen: die Kleine Fermeda ganz rechts, die Große Fermeda, der Villnößer Turm, die Odla [ladinisch = Nadel] ... das sind die kleinen Geisler, die Mittagsscharte trennt sie von der Hauptgruppe. Dort steht der breite Saß Rigais, mehr als 3000 Meter hoch, und links davon die schöne und schmale Furchetta [= Gabel], die fast gleich hoch ist. Dann kommen noch der Wasserkofel, die Valdussa-Odla, der Wasserstuhl und der Kampiller Turm. Ref 28
So beschreibt Reinhold Messner in seiner Autobiographie Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will (1989) die Berge, unter denen er aufwuchs. Ein Farbfoto dieser inzwischen von der UNESCO in die Liste der schönsten Landschaften der Welt aufgenommenen Berge scheint zunächst noch schöner als jede Beschreibung. Aber Fotos und Filme können auch unsere Wahrnehmung beeinträchtigen, während das Lesen sie fördern kann. Warum ist das so? Fotos und Filme zeigen fast nur attraktive Ausschnitte aus der viel größeren Wirklichkeit. Und es fehlt alles, was die anderen Sinne anspricht: die Hitze oder Kälte, die Gerüche, die Mücken, die Müdigkeit, der Lärm usw.
Wie wir beim Lesen die Welt kennenlernen können, bevor wir auf Reisen gehen, hat Thomas Hürlimann in seinem Buch Der Sprung in den Papierkorb (2008) so beschrieben:
Im Leben bin ich oft etwas langsam. ... Aber als Leser war ich mir stets voraus, und schon in frühen Kinderjahren, kaum hatte ich das Alphabet erlernt, sah ich vom Gipfel meines Bücherberges herab auf die ganze Welt, auf Wüsten Meere Länder, auf Paläste Götter Untergänge, auf Zerstörungen und Zukünfte. Das hat mir in späteren Jahren das Reisen nicht verleidet, im Gegenteil. Gewisse Landschaften, etwa die schädelkahlen Hügel Griechenlands oder eine Stadt wie St. Petersburg, lockten mich an, weil ich sie durch Erhart Kästner oder Dostojewskij bereits kannte. Enttäuscht wurde ich nie. Die Dichter hatten mich in die Schönheiten und Abgründe dieser Orte eingestimmt.
Nur als ich in New York ankam, hatte ich ein schales Gefühl. Die erwartete Sensation wollte sich nicht einstellen, und ich meine den Grund dieser Enttäuschung zu kennen. New York hatte ich nicht als Leser, sondern im Kino kennengelernt. Kein Déjà-lu, ein Déjà-vu-Erlebnis!
Es gibt nichts Sichtbares, was nicht beschrieben und beim Lesen vom inneren Auge gesehen werden kann, und nichts Sichtbares, was durch die Beschreibung nicht noch sichtbarer würde. Das gilt ganz besonders bei der Betrachtung von Kunstwerken. Ref 29
Wer liest, lernt die Kunst besser sehen
Die Malerei unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von Literatur und Musik: Sie scheint stumm und wendet sich ans Auge. Die Literatur spricht und richtet sich über Auge und Ohr zunächst an den Geist, und die Musik an unser Ohr und unsere Emotionen. Manche Maler jedoch versuchen die Stummheit der Kunst zu überwinden: die religiösen Maler, die Historienmaler, auch die Symbolisten wie Arnold Böcklin, der einmal sagte:
Wie es die Aufgabe der Dichtung ist, Gedanken in uns zu erzeugen, die der Musik, Gefühle auszudrücken oder hervorzurufen, so soll die Malerei erheben! Ein Bildwerk soll etwas erzählen und dem Beschauer zu denken geben, so gut wie eine Dichtung, und ihm einen Eindruck machen, wie ein Tonstück. Auch sagte er:
Wozu über Bilder schreiben? Die sprechen für sich selbst.
Oft ist aber schon die Sprache mehrdeutig. Die Kunst ist es erst recht. Dies soll hier an zwei Bildern gezeigt werden, die ich immer wieder mit Schülern betrachtet habe:
Das eine malte der junge Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) im Jahr 1888: »Au cirque
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