Wer liest, kommt weiter
die Oberfläche sehen, die Vorderseite, die Schauseite.
In dieser Parabel geht es um Schein und Sein, um Lüge und Wahrheit und um unsere Erkenntnis, die heute vielleicht noch mehr getäuscht werden kann als vor 100 Jahren.
Darüber könnte man ins Grübeln kommen, vielleicht sogar zum Weinen. Zum Weinen ist auch das Vielleicht am Ende des ersten Satzes: Nur vielleicht würde er protestieren. Das fragen auch wir uns manchmal: Sollen wir etwas sagen oder nicht? Sollen wir protestieren? Oder sollten wir uns nicht vor allem für das Gute einsetzen statt gegen das Schlechte zu protestieren? Aber oft ist das eine nicht möglich ohne das andere.
Franz Kafka (1883–1924): Auf der Galerie (1919)
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters. Ref 31
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.
Wer liest, sieht in seiner Phantasie
Zu Beginn habe ich kritisiert, daß man auf die Frage Wozu lesen? nur wenige überzeugende Antworten findet. Eine ist der Slogan »Lesen ist Kino im Kopf«. Freilich sind bewegte Bilder in der direkten Konkurrenz mit dem Lesen immer im Vorteil. Andererseits ist das Lesen schöpferisches Sehen.
Hier zunächst ein uralter Text über das Sehen. »Sehen« ist mit lateinisch »sequi«, »folgen«, verwandt. Wer sieht, folgt allen Bewegungen. Dies gilt besonders für Männer, die visuell anders ansprechbar sind als Frauen, die das manchmal auch ausnützen:
Judith ... zog ihre Witwenkleider aus, ... ordnete ... ihre Haare, setzte ein Diadem auf und zog die Festkleider an ... Auch zog sie Sandalen an, legte ihre Fußspangen, Armbänder, Fingerringe, Ohrgehänge und all ihren Schmuck an und machte sich schön, um die Blicke aller Männer, die sie sähen, auf sich zu ziehen.... Man öffnete das Tor und Judith ging mit ihrer Dienerin hinaus. Die Männer in der Stadt aber sahen ihr nach, bis sie den Berg hinabgestiegen und durch das Tal gegangen war und man sie nicht mehr sehen konnte. (Buch Judith, 10. Kapitel, Einheitsübersetzung)
Judith macht sich schön, weil sie König Holofernes zuerst mit den Waffen der Frau verführen und dann mit der Waffe der Männer, einem Schwert, besiegen will. Beim Lesen dieser Erzählung sehen wir in unserer Phantasie vielleicht eine dunkelhaarige Schönheit, die uns auch heute faszinieren könnte.
Brauchen wir dazu die 112 Millionen Judith-Fotos, die uns Google am 18.6.2012 anbot? Am 16.8. waren es 325, am 19.8. wieder 145 Millionen, etwa hundertmal mehr als es weltweit Judiths
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