Wer liest, kommt weiter
Fernando«. Dieses Bild, heute im Art Institute in Chicago, kaufte der Eigentümer des Moulin Rouge und stellte es dort im Foyer aus.
Dort hat es Georges Seurat (1859–1891) mit Sicherheit gesehen und malte 1891 im selben Zirkus sein letztes Bild: »Cirque«, das heute im Musée d’Orsay zu bewundern ist. Beide Bilder zeigen dieselbe Szene und dieselben Personen: Zirkusdirektor Loyal, drei Clowns, einen Schimmel, eine Reiterin. Doch unterschiedlicher könnte man dieselbe Szene kaum malen. Ref 30
Toulouse-Lautrec stellt die Beziehung zwischen dem Zirkusdirektor, dem animalischen Spiegelbild des von hinten gezeigten dahinstampfenden gescheckten Zirkusgauls, und der sich am Gaul festhaltenden Reiterin in den Mittelpunkt. Die anderen Figuren, auch den interesselos dasitzenden Herrn mit Zylinder, schneidet er durch den Bildrand ab. Er konzentriert sich auf das für ihn Wesentliche, die brutale Wahrheit des Zirkuslebens, die das schaulustige und vergnügungsbereite Publikum weder sieht noch sehen möchte.
Seurat hingegen arrangiert die Szene zu einem Schauspiel. Im Hintergrund setzt und stellt er alle so, daß sie zu sehen sind: 30 Zuschauer auf den Rängen und der Galerie, dazu drei Musiker und vier livrierte Ordner – sie alle bewundern die drei Clowns, zwei von ihnen mit vor Staunen geöffnetem Mund, den überaus galanten Zirkusdirektor, das Traumpferd und vor allem die Traumtänzerin, die auf ihrem Schimmel zu schweben scheint.
Das ist ein Traumzirkus, ein ideales Gegenbild zur brutalen Zirkusrealität bei Toulouse-Lautrec! Auch Toulouse-Lautrec, der auf Seurats Bild in der ersten Reihe zu sitzen scheint, hat dieses Bild vermutlich bewundert.
Was hat das alles mit dem Lesen zu tun? Einiges. Denn ohne etwas über Toulouse-Lautrec und über Seurat gelesen zu haben, kann man die beiden Bilder kaum sinnvoll miteinander vergleichen. Auch für die Beschreibung eines einzelnen Bildes brauchen wir das dazu nötige Vokabular, das wir vor allem in kunstgeschichtlichen Büchern und Aufsätzen finden. Und indem wir Bilder beschreiben, bringen wir sie zum Sprechen.
Was habe ich nicht aus den Büchern von Ingo F. Walther gelernt, u.a. über die großen Codices der Weltliteratur, die Miniaturen der Manesse-Handschrift, über van Gogh und Picasso. Und welche Freude ist es, in den Kunstbüchern von Wieland Schmied zu blättern, zu schauen und zu lesen: in den Bildern zur Bibel (2006) und Von der Schöpfung zur Apokalypse (2007) hat er zu jedem Bild eine Seite geschrieben.
In solchen und anderen Kunstbüchern liest man, lernt man, staunt man und freut sich über die Schönheit und die durch die Beschreibung erkennbare Weisheit der Bilder.
Dichter schreiben seltener über Bilder. Warum sollten sie auch Bilder nacherzählen, wenn sie selbst Geschichten in Worten erzählen können?
Es gibt aber Ausnahmen: Romane und Erzählungen über Künstler, Gedichte über Statuen und Gemälde – und die Parabel Auf der Galerie von Franz Kafka.
Ich erinnere mich noch, wie wir diese Parabel durch unseren unvergessenen Deutschlehrer Dr. Michael Scherer kennengelernt haben und tief beeindruckt waren. Wie oft habe ich sie mir vorgelesen und dabei die Atemlosigkeit der lungenkranken Reiterin und die Verzweiflung des Galeriebesuchers gespürt. Wie sehr habe ich diesen dafür bewundert, daß er das Unrecht, das da vor seinen Augen geschieht, aufhalten möchte!
Nicht weniger bewundernswert ist der Satzbau dieser aus nur zwei Sätzen bestehenden Geschichte, einem Konditionalsatz plus Hauptsatz im Konjunktiv (Wenn irgendeine Kunstreiterin ... rundum getrieben würde ... – vielleicht eilte dann ...) und einem Kausalsatz plus Hauptsatz im Indikativ: Da es aber nicht so ist ..., da dies so ist, legt der Galeriebesucher ... und weint.
Auch die Untersuchung der Verben, der Partizipien und Adjektive, schließlich der Satzzeichen (Kommata und Strichpunkte) zeigt, wie in dieser genialen Parabel alles zusammenpaßt.
Kafka war zweimal in Paris und hat dort wohl das Zirkusbild von Toulouse-Lautrec im Moulin Rouge gesehen, vielleicht von Seurats Bild gehört, das damals im Besitz von Paul Signac war, und dann vielleicht auch diesen Zirkus besucht.
Kafka war auch ein begeisterter Kinobesucher. Er kannte also das Problem des doppelten Scheins: Vieles im Film ist Kulisse und alles gespielt, und was wir sehen, sind auch nur Lichtspiele – und doch beeindrucken sie uns fast so und manchmal noch mehr als die Wirklichkeit, von der wir aber oft auch nur
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